In
anarchistischen Kreisen wird jetzt der hundertste Geburtstag Rudolf
Rockers gefeiert. Rockers Geburtstag sollte aber auch in jiddischen
Kulturkreisen gefeiert werden. Es sollte als Datum in die jiddischen
Literatur eingehen. Rocker, der anarchistische Agitator, war ein
jiddischer Schreiber, ein bedeutender, talentierter und vielseitiger
jiddischer Schreiber: ein Publizist und Theoretiker, Essayist und
Kritiker, Historiker und Biograph, Memoirenschreiber, Übersetzer und
Redakteur, ein Schreiber mit einem schönen Stil und
poetisch-bildhafter Sprache, ein verdienstvoller Schreiber. Dazu war
er als Sprecher begabt, als Volksredner für die Massen und als
Lektor für Intellektuelle.
Als
jiddischer Schreiber und Redner während der 1890er Jahre war Rudolf
Rocker ein Wunder. Ein Deutscher, ein unbekannter Nichtjude, der in
einem katholischen Waisenhaus in seiner Geburtsstadt Mainz erzogen
wurde und in seiner Jugend nie mit Juden in Berührung kam und sie
erst recht nicht kannte, weder ihre Sprache noch ihre
Sitten und Gebräuche. Erst im Alter von zwanzig Jahren lernte
er in Paris jüdische Sozialisten und Revolutionäre kennen und bekam
eine Ahnung von Juden als Menschen und als Freiheitskämpfer. Er
lebte unter Juden und wurde in die Familie jiddisch sprechender
Anarchisten aufgenommen, wird ihr Anführer und Lehrer, schreibt für
sie, verbreitet seine Ideen unter ihnen, schreibt für sie, wird Teil
ihrer Kultur und verbreitet sie in den jüdischen Vierteln Londons.
Abraham Frumkin, ein langjähriger Begleiter und Freund Rockers
schrieb in einem Artikel in der Zeitschrift Tog vom 10. April
1926 über Rockers Bedeutung als jiddischer Autor und seinen Einfluss
auf die jüdischen Massen:
„Das
Schicksal wollte es, dass der begabte Mann Jiddisch lernt, und ab
diesen Moment für 20 Jahre alle seine Fähigkeiten, sein Bestes,
der verarmten jüdischen Nachbarschaft gab, die so sehr nach ihm
verlangte.“
Hätte
Rockers Debüt als jiddischer Schreiber und Redakteur nicht bei einem
kleinen anarchistischen Blatt in Liverpool („ein typisches armes
Blättchen“ wie Rocker in seinen Memoiren schreibt) stattgefunden
und danach nicht die Redaktion des Arbeter fraynd übernommen,
dann hätte sein Einfluss als Schreiber auf jüdische Kreise
bestimmt größere Ausmaße angenommen als lediglich
auf
die
anarchistische
Kreise in England und Amerika. Man
hätte ihn in Osteuropa wahrgenommen, wo die jiddische Literatur in
jener Zeit stark aufblühte. Nachdem er sich die jiddische
Sprache angeeignet hatte, stellte er sich als herausragender
Schreiber mit umfangreichen kulturellen Wissen und Geschmack heraus.
Rocker
fing fast zur gleichen Zeit an Jiddisch zu schreiben wie Baal
Makhshoves. Seine ersten Artikel unterschrieb Baal Makhshoves mit Ger
Tsedek. Der Nichtjude Rocker war ein Ger Toyshev. Baal Makhshoves war
ein jüdischer Nationalist
und Zionist und
Rocker ein – Anarchist und Kosmopolit. Rocker schrieb nicht über
andere jiddische Autoren, während Baal
Makhshoves erster
Artikel sich mit Mendele, Peretz, Scholem Aljechem und anderen
jiddischen Autoren beschäftigte. Es ist nicht so, dass ich die
beiden miteinander vergleichen möchte. Wenn beide über Autoren der
Weltliteratur schreiben, herrscht ein großer Unterschied. Ich
berühre es nebenbei wegen dem Zufall, dass Rocker und Baal
Makhshoves zur
gleichen Zeit mit dem Schreiben begannen und die
ästhetische Kritik beider bezog sich auf die europäische Kultur.
Unter anderen Umständen wäre auch
Rockers
Einfluss auf die jiddische Literatur größer
gewesen.
Als
jiddischer Schreiber war Rocker einzigartig, nicht nur zu seiner
Zeit, sondern auch heute. Christen die Hebräisch sprechen, waren
hingegen
keine
Seltenheit, insbesondere in der Epoche der Renaissance, als die
hebräische Sprache unter Christen ihren Höhepunkt erreichte.
Fleißig
lernten sie die heilige Sprache. Kardinäle, Priester, Humanisten,
Adelige und Theologen schwitzen über der hebräischen
Grammatik.
Elijah
Levita, Autor verschiedener
Bücher
und Ur-Ur Großvater der jiddischen Literatur, lebte im 15.
Jahrhundert und verdiente sich seinen Lebensunterhalt
damit Kardinälen die heilige Sprache beizubringen. Genau wie Wilhelm
Gesenius,
der hebräische Lexikograph und Professor der Universität
Leipzig im 19. Jahrhundert, der
für seinen Hebräisch Unterricht von seinen Studenten ein hohes
Schulgeld verlangte. Katholische Priester und Gelehrte pflegten mit
Rabbinern auf Hebräisch zu korrespondieren. Genauso
korrespondierte Sabbatai ben Meir ha-Kohen im 17. Jahrhundert auf
Hebräisch mit dem Christen Valentini Widrich, einem großen
Gelehrten. Aus dem Jahr 1717 ist uns eine interessante Korrespondenz
auf Hebräisch von
einem Pastor aus einer kleinen Stadt in Schlesien überliefert.
Wir finden Christen mit Hebräisch Kenntnissen
unter aristokratischen Frauen, wie Anna Maria von Schurman, unter
Monarchen und Kaiserinnen, wie der
schwedische Königin, unter
Diplomaten
wie John Hay, dem
amerikanischen
Außenminister zu Beginn des 20. Jahrhunderts, welcher
Gerson Rosenzweigs Zeitschrift Hebri
im
Abonnement
bezog. Dom Pedro II., Imperator von Brasilien, der im Jahr 1889
abgesetzt wurde, da er die Sklaverei in Brasilien verbot, redete
und sprach Hebräisch, verfasste einen Kommentar zu Chad
Gadya, veröffentlichte alte hebräische Hymnen und war ein naher
Freund von Nachum Sokolow. Aus
unserer Zeit ist Alishbe
gut bekannt, eine russische Dichterin, die anfing auf Hebräisch zu
schreiben und auch zum Judentum übertrat.
Christen
mit Jiddisch Kenntnissen lassen sich dagegen an einer Hand abzählen.
Die
Biographien etlicher von ihnen (Wagenseil,
Krizander, Dalman, u.a.)
hat
Zalman Reyzen
in seinem Leksikon
fun der yidisher literatur un prese
(Warschau, 1914) veröffentlicht. Sie alle waren Forscher des
altjiddischen Dialekts, der Philologie, Grammatik und Folklore. Die
späteren christlichen Gelehrten lasen und schrieben kein Jiddisch
und von der modernen jiddischen Literatur
haben sie so gut wie nichts gewusst. Der polnische Autor Junosza
(sein richtiger Name ist Szaniavski) war der erste und man kann sagen
der einzige Christ, dessen Interesse rein literarisch gewesen ist.
Ein Zufall führte ihn zur jiddischen Sprache
und da er in der Lage war es zu lesen, hat er sich mit dem Werk von
Mendele Mocher Sforim vertraut gemacht. Er war so begeistert davon,
dass er
Masaot
Binjamin ha-Schlischi
(Der
yidisher don kikhot)
und
Di
kliatsche in
die
polnische
Sprache
übersetzte.
Das erste
Buch erschien
1885 und das zweite
ein Jahr später. Das war für die jiddische Literatur eine
Errungenschaft und Sokolow berichtete darüber etliche Male in der
Zeitung HaTzefirah.
Das gilt auch für Helene Frank, die glänzende Englisch Übersetzerin
von Jizchok Leib Peretz, Simon Frug, Moris Rosenfeld, Abraham Reyzen,
Jehuda Leib Gordon, Chaim Nachman Bialik und vieler anderer
jiddischer Dichter und Erzähler. Sie schrieb voller Liebe in
englischen
Journalen über die jiddische Literatur. Sie
korrespondierte
mit jiddischen Autoren und
meines Wissens nach erschien im Togblat
ein Artikel von Helene Frank über jiddische Folklore. Helene Frank
war die Tochter eines zum Christentum konvertierten Juden und einer
christlichen Mutter.
Das
Lexikon von Reyzen
aus dem Jahr 1914 enthält die Biographie von Helene Frank, aber
nicht die von Junosza
und
Rocker, wogegen in der Liste jiddischer Blätter der Arbeter
fraynd
und Zsherminal
erwähnt werden und dass
Rudolf
Rocker sie editiert, wobei seine christliche Herkunft jedoch
nicht
angesprochen
wird. Das zeigt, dass Rockers Namen zur damaligen Zeit noch nicht bis
in die literarischen Kreise vorgedrungen ist und dementsprechend
seine Biographie im ersten Leksikon
fun der yidisher literatur un prese
nicht aufgenommen wurde. In der Ausgabe von 1929 widmet Reyzen
Rocker drei Seiten, in
denen Einzelheiten
über sein Leben sowie die Titel seiner Werke und Übersetzungen
enthalten sind.
Rocker war schon damals als jiddischer Schreiber und Journalist
berühmt. Lässt man Helene Frank beiseite, die eine halbe Jüdin
war, so ist Rudolf Rocker der einzige Nichtjuden den das Lexikon
enthält.
Gewiss,
es
finden sich mit Christen,
die zufällig etwas auf Jiddisch geschrieben haben. Es ist ein
jiddisches Lied Goethes bekannt, dass er in seiner Jugend in
Frankfurt
schrieb, wo
er mit Juden verkehrte und sich mit ihnen in ihrer Sprache
unterhielt. Der
russische Poet
Alexander Belosov, dessen
Lieder in Sovetish
heymland gedruckt
werden, übersetzte Gedichte von Bialik und veröffentlichte
Abhandlungen über die jiddische Literatur. Er ist in gewissem
Sinne ein Nachfolger Rockers, obwohl er den Namen des anarchistischen
Schreibers nicht kannte.
Rocker
bleibt nach wie vor ein Wunder, ein Unikum in der jiddischen
Literatur. Er hat ohne besondere eigene Absichten Jiddisch gelernt,
alleinig deshalb, um seine Fähigkeiten in den Dienst der Massen zu
stellen. So wurde er zu einem jiddischen Autor. Als
junges Genie mit einem nichtjüdischen Kopf nahm er die jiddische
Sprache geradlinig auf, ohne Kasuistik und Theorie. Doch es gibt
dabei ein sozialistisch-anarchistisches Element, dass Jiddisch liest
und spricht, dass jiddische Zeitungen und Journale herausgibt, wo man
den Sozialismus und Anarchismus agitiert und auch Rocker hatte die
Absicht, den jüdischen Massen den Anarchismus beizubringen.
Dementsprechend war es Rockers Pflicht in der Sprache der Masse zu
reden.
In
Rockers Verständnis von Jiddisch als jüdische Sprache und dem
Aufzeigen ihrer Probleme in jiddischer Sprache und Schrift, als wäre
diese eine ganz normale Angelegenheit, sehe ich gewisse Ähnlichkeiten
zwischen ihm und Eliezer Ben Jehuda, dem Erwecker des Hebräischen
als gesprochene Sprache. Der Pariser Student Perlman, ehemaliger
Schüler einer litauischen Talmudschule und Anhänger der jüdischen
Aufklärung, der sich für den Sozialismus und Nihilismus
begeisterte, allerdings
kein Narodnik war, wurde unter dem Einfluss
der Befreiung des
Balkans
mit siebzehn Jahren ein jüdischer Nationalist, ein politischer
Zionist. So kam er auf den Gedanken die hebräische Sprache zum Leben
zu erwecken und
fragte sich: Wenn die Juden ein Volk sind, bedürfen sie eines Landes
und wenn sie ein Land haben, dann benötigen sie auch eine eigene
Sprache. Der Student Perlman, der später seinen Namen hebraisierte
und sich den Namen Ben
Jehuda gab,
hat diesbezüglich
mit hebräischen Schreibern in Paris gesprochen, die ihn allerdings
auslachten
und ihn davon zu überzeugen suchten,
dass es unmöglich ist Hebräisch zu einer Massensprache zu machen.
Ein
Nichtjude allerdings
verstanden
ihn,
nämlich der russische Journalist Tshashnikov. Er nahm Eliezer
Ben Jehudas
Gedankengang
auf. Mit seinem nichtjüdischen Kopf hat er es verstanden, dass dies
eine richtige Sache ist und ihn dazu ermutigt und gezwungen seine
Gedankengänge zu verschriftlichen. Und so schrieb Eliezer
Ben Jehuda einen
Artikel und wurde zu einem Schreiber und Wegweiser. Den Nichtjuden
Rocker haben jüdische Anarchisten ermutigt und gezwungen ein
jiddischer Schreiber und Wegweiser zu werden.
b.
Da
ich nicht über die Jahrgänge des Arbeter
Fraynd
oder die der anderen Zeitschriften verfüge, welche
Rocker editierte, kann ich den Redakteur Rocker nicht in vollem
Umfang behandeln. Ich muss mich mit dem Journal Zsherminal
begnügen, das
Rocker acht Jahre lang editierte,
wobei einige Ausgaben komplett von ihm verfasst worden sind. Ich
verfüge nicht über alle Ausgaben von Zsherminal;
der
zweite Jahrgang fehlt. Doch um die Geschichte von Zsherminal
und seinem
Redakteur Rocker zu beschreiben, stellt dies kein Hindernis dar.
Es
darf angemerkt werden, dass die Niederschrift der Geschichte von
Zsherminal,
als
eine Zeitschrift,
die Platz
des
Arbeter
fraynd
einnahm, mir
nicht wie das richtige
Wort vorkommt.
Der
Arbeter
franyd
hatte
seit seiner Gründung im Jahr 1885 eine Reihe Veränderungen
durchgemacht: zuerst ein monatliches Blatt und ein sozialistisches
Organ, dann eine anarchistische Zeitung, die alle zwei Wochen,
gelegentlich auch wöchentlich erschien, dann wieder alle zwei
Wochen, dann wieder monatlich. Er wurde eingestellt und dann wieder
neu aufgelegt, hatte Kämpfe auszufechten mit frommen Juden und mit
Radikalen aus dem Londoner Ghetto, aus
Manchester, Leeds und anderen englischen Städten. Die
Zeitschrift wurde von der Regierung verfolgt und war von inneren
Streitereien zerrissen. Dabei dürfen auch nicht die verschiedenen
Redakteure vor und nach Rocker vergessen werden, nicht zu vergessen
den unheimlichen und in gewissem
Sinne paradoxen Dr. Y. M. Zalkind, ein hebräischer Schreiber und
ehemaliger Zionist-Territorialist, ein Freidenker, der religiös
wurde und gleichzeitig ein Anarchist gewesen ist. Er editierte
den
anarchistischen Arbeter
fraynd
und übersetzte
zur
gleichen Zeit den Talmud ins Jiddische.
Es
oblag
Rocker
in
schweren Zeiten und stürmischen Jahren die Physiognomie des Arbeter
fraynd
zu einem jüdischen Kampforgan zu formen.
Anarchistische
Autoren und solche die dem Arbeter
fraynd
nahe standen,
darunter auch Rocker, haben bereits Versuche unternommen die
Geschichte des Arbeter
fraynd niederzuschreiben.
Noch
immer findet sich für Historiker der jiddischen Presse ein weites
Feld um dies zu tun.
Zsherminal
erschien
das erste Mal nachdem die Herausgabe des Arbeter
fraynd
eingestellt wurde. Das neue Journal sollte den Platz der
eingestellten Zeitung aus London einnehmen. In Amerika erschienen
damals neben der Fraye
arbeter shtime
auch andere anarchistische Journale, wie Di
fraye gezelshaft.
Doch Zsherminal
war
kein jiddisch-anarchistisches Organ wie der Arbeter
fraynd.
Der
Arbeter
fraynd,
mit seiner Geschichte und seinen Traditionen, wandelte auf
ausgetretenen Pfaden, Zsherminal
dagegen
setzte seinen ersten Tritt auf unbekanntes Terrain. Obwohl beide den
gleichen Herausgeber hatten – Rocker – hat dieser Zsherminal
anders
editiert. Zsherminal,
obwohl
grundsätzlich ein
anarchistisches Blatt, wurde
sorgsam als literarisches Journal für Leser mit einem ausgefeilten
Geschmack für Kunst und schöne Literatur herausgegeben.
Zsherminal
war in seinem Kern ein europäisches Journal. Seine Grundlage beruhte
auf den Meistern der europäischen Literatur, die
übersetzt wurden und über
die Abhandlungen
erschienen. Das war in der jiddischen Presse neu und ein historischer
Verdienst dieses Journals. Rocker
war der erste, der die moderne Weltliteratur in die jiddische Sprache
übertragen hat. In gewissen Sinne war Zsherminal
der Vorgänger von Reyzens
Wochenblatt Eyropeishe
literatur,
dessen Ziel es war, wie es in einer Werbung für das Journal heißt,
„dem Leser das Beste, Schönste und Erhabenste von europäischen
und jiddischen
Schriftstellern zu geben.“ Das war eigentlich auch Rockers Ziel –
dem Leser in Zsherminal
das Beste und Schönste der europäischen und jiddischen Literatur zu
geben, mit einer Tendenz zu anarchistischen Ideen und einer Tendenz
zu Literatur um ihrer selbst willen.
Abraham
Reyzen
war ein großer Verehrer von Rudolf Rocker. Er
schrieb voller
Begeisterung über Rockers Übersetzung von Nietzsches Azoy
hot geredt Tsaratustra
in
39. Ausgabe von Eyropeishe
literatur (1911).
Er bewunderte
auch den Nichtjuden Rocker, der sich voller Liebe die
jiddischen Sprache angeeignet hat, seinen Idealismus, seine Hingabe
zur jiddischen Literatur und seine literarischen Übersetzungen. Es
ist unumgänglich Reyzen
an dieser Stelle zu zitieren:
Rocker
ist für
seine literarische Tätigkeit in London bekannt sowie für seine
Übersetzungen der Werke von Kropotkin, Maeterlink u.a. Dass Juden
ihre Sprache und ihr Volk verlassen und sich mit fremden Literaturen
beschäftigen, ist keine Seltenheit. Es
ruft vielmehr Verwunderung hervor, wenn dies nicht geschieht.
Dass
aber
ein
Fremder, ein echter Deutscher, ein glänzender Journalist, Denker und
großer Redner seine reiche Literatur beiseite legt um sein Leben
der jiddischen Literatur zu widmen, ist eine seltene Erscheinung.
Als
Rocker anfing Zsherminal herauszugeben, war er bereits ein
erfahrener jiddischer Autor und schon etliche Jahre in der jiddischen
Literatur tätig. Er hatte bereits einen Begriff von der jiddischen
Presse und bereits den Beweis erbracht, dass er in der Lage ist
jiddische Literatur zu verfassen, die zu jener Zeit noch recht
primitiv gewesen ist und erst dann ihren klassischen Höhepunkt
erreichte. Er kannte sich mit den Veränderungen der meisten Autoren
aus, ihrem Übergang von der russischen und hebräischen zur
jiddischen Literatur. So schreibt er in In shturm:
Eine
jiddische Literatur, die diesen Namen verdient, begann sich erst
langsam zu entwickeln: Eine Reihe berühmter Experten dieser neuen
Literatur, wie Abrahmovitsh, Peretz, Frug, An-Ski und eine lange
Liste anderer, begannen ihre literarische Karriere auf Russisch und
Hebräisch bis ihnen stückweise der Gedanke kam, dass man zum Volk
in der eigenen Sprache reden muss, um so ihr geistiges Leben zu
bereichern. Und so wurde die erste Grundlage für die jiddische
Literatur gelegt und mit ihr die Grundlagen der Sprache, die dann
stückweise schönere Formen in ihrer Gestaltung annahm. Der
sogenannte jüdische Jargon, den insbesondere die deutschen Juden
verachteten, wurde so zu einer Sprache wie alle anderen Sprachen
auch und innerhalb der letzten 60 Jahre entstand eine bemerkenswerte
Literatur, die mit den Inhalten und Formen der Literatur kleiner
europäischer Völker verglichen werden kann.
Rocker,
ein großer Verehrer von Peretz, veröffentlichte in der März
Ausgabe von Zsherminal das Lied Falshe duner, falshe blits.
c.
In
seinem Buch In shturm widmet Rocker Zsherminal ein
besonderes Kapitel. Er berichtet über die Geburtswehen des Journals
und dessen Existenzkampf sowie interessante Episoden, die mit dem
Journal in Verbindung stehen. So berichtet er, dass der Gedanke
dieses Journal zu veröffentlichen nicht von einem Anarchisten kam,
sondern von einem Zionisten mit dem Namen G. Naroditski. Er machte
Rocker den Vorschlag nachdem die Herausgabe des Arbeter fraynd
eingestellt wurde und bot seine Mithilfe beim Satz des Journals an.
Rocker
erzählt Einzelheiten über Naroditski, so etwa: Er war ein
intelligenter junger Mann, der aus Russland, wo er eine traditionelle
jüdische Erziehung genoss, nach London emigrierte. Er wurde an einer
Talmudschule ausgebildet und hatte das Ziel Rabbiner zu werden, dann
jedoch erfassten ihn neuen Ideen und er wurde in der zionistischen
Bewegung aktiv. In London beendete er eine Ausbildung als
Schriftsetzer. Obwohl er ein Zionist war, verkehrte er in
anarchistischen Kreisen. Naroditski stand Rocker sehr nah, übernahm
dessen Ideen und verschmolz anarchistische und zionistische Ideen.
Die ersten zwölf Ausgaben von Zsherminal hat Naroditski
aufgesetzt.
Rocker
bringt noch weitere Besonderheiten über den idealistischen jungen
Mann. Er beschreibt ihn als sympathisch und rührend. Ich will an
dieser Stelle weitere Kennzeichen von Naroditskis erzählen, die
Rocker nicht erwähnte und von denen er wahrscheinlich auch nichts
wusste.
Israel
Naroditski wurde in Schitomir geboren. Er war ein Jugendfreund von
Bialik, besuchte allerdings nicht wie er die Talmudschule von
Waloschyn und war auch nicht derjenige, der Bialiks Lied HaZipor
an Y. Ravnitzki sandte, wie es in Naroditskis Biographie im Leksikon
fun der nayer yidisher literatur angegeben ist. Lilienblum gab
HaZipor an Ravnitzki und es wurde in Pardes abgedruckt.
Naroditski gab Bialiks Gedicht an Ruben Brainin, der es in dem
Journal Mi-Mizrah veröffentlichte, für das Naroditski der
Agent in Russland war. Bialik erinnert sich an Naroditski in einem
Brief an Ravnitzki.
Naroditski
war ein Mann des Volkes und hatte eine innige Beziehung zur
jiddischen Sprache. Er verbreitete die jiddische Literatur und im
Jahr 1891 gab er in Zusammenarbeit mit Berta Fleksner die Sammlung
Dos heylike land als Propaganda für Hibat Tsiyon heraus. Es
enthielt die prominentesten jiddischen Autoren der damaligen Zeit.
Naroditski
beteiligte sich oft an dem hebräischen Blatt Ha-Yehudi, das
von Yitshak Sobalski in London herausgegeben wurde. Er gab auch
Volksbücher heraus, deren Zweck es war die Massen zu bilden, was
sein Interesse an Zsherminal erklärt.
Hat
Naroditski auch bei Rockers Journal mitgearbeitet, wie es im Leksikon
angegeben ist? Artikel oder Übersetzungen mit seinem Namen finden
sich nicht. Vielleicht ist er der Autor des feuilletonistischen
Artikels Aropgefaln (aus R. Blatshfrods Fantazies),
abgedruckt in der Nummer 17 des ersten Jahrgangs. Auf jeden Fall
wollte sich Naroditski an Zsherminal beteiligen, wie Rocker
erwähnt. Rocker erwähnt auch, dass Naroditski nach der zwölften
Ausgabe aufgehört hat als Schriftsetzer für Zherminal tätig
zu sein, da er eine eigene Druckerei eröffnete. Rocker hat dies als
schweren Schlag für Zsherminal beschrieben, da sich das
Journal noch in seinen Anfängen befand: „Während wir bei der
Herausgabe der ersten zwölf Ausgaben noch Glück hatte, stießen wir
danach auf neue Schwierigkeiten, wodurch die Existenz des Blattes
gefährdet war. Naroditski ließ mich eines schönen Tages wissen,
dass er nicht länger im Stande war als Schriftsetzer für das
Journal tätig zu sein. Ich hatte diesen Moment schon lange voraus
gesehen und war deshalb nicht sonderlich überrascht, war doch das,
was er bei uns als Schriftsetzer verdiente nicht genug um ihn an
einem Weggang zu hindern. Er nahm die Gelegenheit wahr eine kleine
Druckerei zu übernehmen und sein neues Unternehmen nahm viel Arbeit
in Anspruch.“ Es darf angemerkt werden, dass Naroditski zur
Zsherminal-Gruppe gehörte, die das Journal unterstützte. In
der ersten und zweiten Nummer des Journals ist sein Beitrag von einem
Schilling erwähnt.
Naroditski
war ein idealistischer Typ, der sich schnell von idealistischen Ideen
vereinnahmen ließ. Er bewunderte und vergötterte Idealisten und war
bereit ihnen zu dienen. So wurde er, der Zionist und nahe Freund des
zionistisch-orthodoxen Autors Subolski, vom
Anarchismus vereinnahmt,
bewunderte den Idealisten Rocker und unterstützte Zherminal.
Dementsprechend freundete sich Naroditski mit Josef Chaim Brenner an,
nachdem dieser aus dem zaristischen Russland nach London geflohen
war. Er bewunderte Brenner für seinen Idealismus, ähnlich wie er
Rocker bewundert hatte. Naroditski brachte Brenner die
Schriftsetzerei bei und in Naroditskis Druckerei druckte Brenner das
Journal Ha-Meorer,
dessen
erste Ausgaben dem Journal Zherminal
sehr ähnlich waren. Sowohl
Zsherminal
als auch Ha-Meorer
beinhalteten Aphorismen und Schlagwörter berühmter Männer, wobei
sie in Zsherminal
unter der Rubrik „Kluge verter“
und
in Ha-Meorer
unter
dem
originellen Titel „Omrim“
abgedruckt
waren. Es
ist interessant, dass sowohl Brenner als auch Rocker in ihrer ersten
Ausgabe Übersetzungen des Dichters Johannes Schlaf veröffentlichten.
Ich
möchte noch ein wenig die beiden Journale Zsherminal
und Ha-Meorer
miteinander
vergleichen. Als Rocker begann Zsherminal
herauszugeben war er, wie er schrieb „von keiner Gruppe abhängig“
und er editierte das Journal mit dem Ziel „dem Organ einen eigenen
Charakter zu geben“. Es war kein Propagandablatt für Anarchisten,
sondern ein literarisches Journal, dessen Ziel es war dem Leser
kulturell zu
unterrichten, ihn
in die
geistigen
und sozialen
Probleme der Gegenwart zu vertiefen und ihm das Beste und Schönste
aus der modernen europäischen Literatur zu geben. Auch Brenner
Journal
Ha-Meorer
war
unabhängig
von einer Gruppe
(obwohl
angegeben ist, dass das Journal durch den Verein „Dobri Ivrit“
London erscheint). Brenner
hat dem Journal einen neuen Charakter gegeben und einen Ton, welcher
völlig anders war als die hebräischen Journale, die
während
der Zeiten der Pogrome und Revolutionen, in Russland herausgegeben
wurden.
Zsherminal
war einzigartig in der jiddischen Presse, genau wie Ha-Meorer
es
in der hebräischen Presse war. An
den zahlreichen
Zuschriften
aus England, Amerika, Frankreich, Südamerika und Ägypten. Am
Briefkasten
in
Rockers Zsherminal
lässt
sich rege
Beteiligung
seiner Leser ablesen. Das
gleiche kann man auch über die Geldspenden sagen. Es
waren zumeist kleine
Geldbeträge von armen Arbeitern.
Ich
bringe hier einige der Antworten, welche die Hingabe der Leser an das
Journal verdeutlichen, aber auch die von Rocker an seine Leser. So
schreibt er in der ersten Ausgabe an Rosenthal in Ägypten: „3
Schilling erhalten. Ihr seid die ersten, die Geld spendeten.
Herzlichen Gruß.“ Zum gleichen Leser
schreibt
Rocker in der dritten Ausgabe: „Vielen Dank für euer sympathisches
Schreiben. Besten Dank.“ „Rozenberg, Liverpool. 2 Schilling
erhalten. Vielen Dank für eure Tätigkeit und Grüße an alle.“
„Izakovits,
Leeds (das ist der Schriftsetzer Isakovitz, der in New York lebte,
ein naher Freund Rockers, der in Rockers
Biographie erwähnt
wird): 5 Schilling erhalten.
Ich
bin noch schwanger mit einem Brief an dich und hoffe, dass er diese
Woche geboren wird. Herzlichen Dank für den Brief und Grüße an
alle.“ Aus der vierten Ausgabe: „Freyndlikh, Kairo: Die traurige
Nachricht von euch tat mir sehr leid. Herzlichen Gruß und immer
weiter kämpfen, lieber Freund.“ Der Schreiber des letzten Briefes
berichtete über den Tot von Ch. Veynberg, „der Erste, der
anarchistische Literatur nach Kairo brachte“, wie der Schreiber in
einem Nachruf erzählt. Eine kuriose Brief findet sich in derselben
Ausgabe: „Einige Freunde haben angefangen sich zu „duzen“ und
wenn jemand den anderen mit „sie“ anspricht, muss er ein Pence
zur Strafe zahlen: 2 Schilling, 3 Pence.“ Ein schöner Einfall.
Im
Briefkasten pflegte Rocker auch literarische Angelegenheiten zu
behandeln. So schreibt er in der vierten Ausgabe: „Hilman, Leeds.
Eure Übersetzung von Heines Poesie ist leider nicht gelungen.“
Zu
Beginn des 20. Jahrhunderts wurden jiddische und hebräische
Zeitschriften in London normalerweise auf billigem Papier gedruckt,
die, wenn man sie heute berührt, zerfallen. Zsherminal war
mit seinem „schön gedruckten Aussehen und Zusammenstellung“ eine
Ausnahme. Sie macht „typographisch einen sehr angenehmen Eindruck“
schreibt Rocker in In shturm. Es ist hinzuzufügen, dass
Rocker die Ausgaben immer selbst korrigierte, die Administration
leitete und die ganze schwarze Arbeit verrichtete. Auch darin ähneln
sich Rocker und Brenner, der Ha-Meorer alleine setzte,
korrigierte und die Ausgaben zur Post brachte. Beide haben, jeder auf
seine Weise und mit unterschiedlichen Zielen und Motiven,
vorbildliche Journale in London produziert – der eine in Jiddisch
und mit anarchistischen Tendenzen und der andere auf Hebräisch für
seine Ideale.
Was
ich bis jetzt geschrieben habe, ist eigentlich ein Vorwort zu einem
Buch über Zsherminal – die Geschichte dieses fein
editierten Journals muss noch ausführlich niedergeschrieben werden –
was bei einer anderen Gelegenheit hoffentlich passieren wird.
Eliezer
Raphael Malachi. Rudolf roker – der shrayber un redaktor. in: Fraye
arbeter shtime (Mai, Juni, Juli 1973), New York: Free Voice of
Labour, 1973.
Aus
dem Jiddischen von Rocker Revisited
Originale: Scan wird nachgereicht .... but who cares anyway?
Originale: Scan wird nachgereicht .... but who cares anyway?