von Josef Leftwitch
Ich erinnere mich
daran, als Rudolf Rocker starb und ich einen Nachruf über ihn
veröffentlichte, fragte mich Rockers Schwager Guy Aldred, Witkops
Mann, warum ich Rocker als physisch starken, stämmig gebauten Riesen
beschrieb. Aldred, der wie die ganze Witkop-Rocker Familie ein naher
Freund von mir war, wollte wissen, wie ich auf diesen
Gedanken kam, denn seiner Erinnerung nach war Rocker ein ganz
durchschnittlich gebauter Mensch, weit von einem Riesen entfernt.
Wie kam ich auf den
Gedanken, dass Rocker ein Riese war? Aldred war ein gewöhnlicher
Mensch, klein, schlank und agil. Zwischen den Schwagern war es nicht
immer friedlich. Auch nicht mit Poli Witkops Mann, Ernst Zimerling,
obwohl Zimerling und Rocker zusammen interniert waren und Rocker sich
damals freute einen vertrauten Menschen um sich zu haben.
Zwischen Aldred und
Rocker gab es politischen Streit. Beide waren während des Krieges
inhaftiert, Rocker im Lager, wie andere Deutsche während des Krieges
und Aldred im Gefängnis, als Engländer, der gegen den Krieg
agitierte. Als Aldred nach dem Krieg entlassen wurde, deportierte man
Rocker zurück nach Deutschland. In den Kriegsjahren sahen sie sich
nicht. Danach auch nicht. In Rockers Buch In Shturm erwähnt
er Aldreds Namen nur ein einziges Mal und als man Milly danach
fragte, sagte sie: „Ja, er ist mein Schwager.“ „Und wo ist
Aldred jetzt?“ „Er sitzt als Kriegsgegner im Gefängnis.“
Als es zur
russischen Revolution kam, hielt Rockers Begeisterung nicht lange an.
Doch Aldred wandte sich nicht von den Kommunisten ab; sie
unterstützten sogar Aldred Kandidatur für das Parlament. Ich war
damals Mitarbeiter der Zeitschrift The Spur, die von Guy und
Rose Witkop herausgegebene wurde. Ich habe damals auch eigene Sachen
gedruckt, darunter Gedichte von Josef Bovshover und anderen
revolutionären Dichtern. Interessanterweise hat man im englischen
Teil der Morgn frayheyt vom 30. April 1972 meine
Übersetzung von Bovshovers Gedicht Revolutsie veröffentlicht,
die ursprünglich im Jahr 1919 in The Spur erschien.
Guy Aldreds Nähe zu
den Kommunisten und auch persönliche Gründe führten dazu, dass er
und Rose sich trennten. Für Aldred, der einmal große Ambitionen und
brillante Möglichkeiten innerhalb der revolutionären Bewegung
hatte, war Rocker kein Riese. Für mich schon. Für mich, der als
Schuljunge in der gleichen Straße wie Rocker gewohnt hatte und ihn
damals sah, wie er, wie mit einer Lichkegel durch die Straßen ging,
war er ein Riese. Und er blieb es als ich älter wurde und in Kreisen
der Gruppe Arbeter fraynd verkehrte, ihn in seiner Wohnung
besuchte und mich mit seiner Familie anfreundete.
Es gibt keinen
Menschen der sich nicht an Rocker in jenen Londoner Jahren vor dem
ersten Weltkrieg erinnert, jene goldenen Jahre, wie Rocker sie einst
in einem Brief an mich nannte, als ich sein Buch In
Shturm ins Englische übersetzte. Es sind jene
Jahre, die mit seiner Verhaftung und Deportation endeten. Danach
fand Rockers Karriere nicht mehr in London statt. Es leben kaum noch
Genossen von damals, wie ich, der ich bei Ausbruch des Krieges 21
Jahre war und heute schon über 80 Jahre alt bin. Der einzige den ich
kenne ist Sam Drin, mit dem ich in Kontakt stehe und der heute in
Amerika in Milwaukee wohnt und mich jedes Jahr in London besucht.
Bereits neunzig Jahre alt, ist er gerade hier und plant eine Feier zu
Rockers Jubiläum. Und Fermin, Rockers Sohn, den ich schon als Kind
kannte, ist auch mit seiner Familie hier.
„Die goldenen
Jahre unserer Jugend“, so nannte Rocker jene Zeit in einem Brief an
mich, jene Jahre in denen wir kämpften und hofften. Und so nannte
sie auch mein lieber Genosse Linder. Als ich ihn einmal in New York
besuchte, nahm er aus einem Schrank einen Brief und las ihn mir vor.
Es war zu der Zeit, als ich Rockers Buch übersetzte. In dem Brief
schreibt Milly an Linder: „Wenn du Leftwitch wieder schreibst,
richte ihm aus, dass Rudolf und ich uns sehr über die Übersetzung
freuen. Das Buch ist bei unserem alten Freund in guten Händen. Er
wird es volle Liebe übersetzen.“
Jene goldenen Jahre
unsere Jugend liegen jetzt so weit zurück, dass sie schon eher
Legenden als Geschichten sind. Aus jene Zeit und deren Menschen ist
fast schon ein Mythos geworden. Die heutige Desillusionen des
täglichen Lebens haben zu einer Art „Hippi-Negativismus“
geführt, dem seine Anhänger den Namen Anarchismus geben, doch es
ist ein Nihilismus, der eher negativ als positiv ist. Doch es gibt
auch ehrliches Interesse am Anarchismus unter Intellektuellen. Und
die Menschen sind neugierig auf die einstigen anarchistischen
Theoretiker: Kropotkin, Malatesta und auch Rocker. Doch es entstehen
Begriffe, welche die Gestalten und die Geschehnisse vernebeln. In der
Fraye arbeter shtime und in Dos fraye vort vom August
1969 habe ich erzählt, wie man mich darum bat in einem Film über
Malatestas Leben in London mitzuwirken und ich fand heraus, dass auch
ich bei der heutigen Jugend zu einem Teil jener Legende wurde.
„Von unserer
Bewegung sind nur schwache Spuren geblieben“, schrieb Rocker, „eine
Bewegungen, die über Jahrzehnte hinweg fruchtbare und produktive
Arbeit geleistet hat“. „ Ein Teil starb während des ersten
Weltkrieges, ein Teil ging in der russischen Revolution verloren, ein
Teil ging zurück nach Russland. Die Immigration hat aufgehört. Die
Bewegung wurde durch grausame Bedingungen umgebracht. Rund zwanzig
Jahre meines Lebens habe ich dieser schönen und fruchtbaren Bewegung
geopfert. Ich bereue nichts daran. Es sind unvergessliche Jahre für
mich“.
Rocker
Errungenschaften betreffen nicht nur die anarchistische Bewegung. Er
war eine Inspiration, einer Wortführer, ein Anführer der ganzen
jüdischen Arbeiterbewegung in England. Wie hat es Rocker einmal
ausgedrückt? „Alle jüdischen Gewerkschaften in Whitechapel wurden
ausnahmslos auf Initiative von jüdischen Anarchisten gegründet. Die
jüdische Arbeiterbewegung entstand meistens aus der unaufhörlichen
Arbeit, die wir Jahr ein, Jahr aus durchgeführt haben. Selbst jene,
die mit anderen Ideen verbunden waren, können nicht leugnen, was wir
im Bereich des Gewerkschaftswesen geleistet haben.“
Das was Rocker
damals schrieb liegt nicht lange zurück und wurde im Jahr 1972 von
Dr. Levenberg übersetzt. Er ist einer der Anführer von Poale Zion
und einer der besten Kenner der zionistischen Bewegung in England. In
Vanguard, dem Organ der Poale Zion, erzählt Levenberg, dass
„obwohl der Anarchismus als Organisation in der jüdischen Welt
heute kaum noch besteht, es eine Zeit gegeben hat in welcher der
Anarchismus auf die Entwicklung der jüdischen Arbeiterbewegung einen
gewissen Einfluss hatte.“ Und über Rockers Bedeutung für die
jüdischen Arbeitermassen Londons schreibt er: „Rocker war eine
farbenfrohe Figur.“
Ich schrieb
Levenberg, dass dieses Jahr Rockers hundertster Geburtstag gefeiert
wird und habe ihn gefragt, ob er sich an der Feier für diese
wichtigen Arbeiterführer beteiligen möchte. Er antwortete mir, dass
„dieser Jahrestag ein wichtiges Datum in der Geschichte der
jüdischen Arbeiterbewegung darstellt“ und dass auch er sich an den
Feierlichkeiten in London beteiligen wird. Levenberg betonte auch
Rockers Bedeutung als Redakteur jiddischer Journale und als Redner
vor den jüdischen Volksmassen in Whitechapel.
Rockers Anteil an
der jiddischen Journalistik und jiddischen Literatur habe ich an
etlichen Stellen betont und im Jahr 1970 schrieb ich einen Artikel im
Jewish Chronicle, der auch in anderen Ländern veröffentlicht
wurde.
Ich habe auch
anderen von Rockers Errungenschaften erzählt. Einer von ihnen war
Robert Weltsch, ein wichtiger Publizist und ehemaliger Redakteur des
Berliner zionistischen Journals Jüdische Rundschau. Er lieh
sich meine Ausgabe von London Years und hat sich danach in der
Nummer 15 der Leo Beck Bücher dazu geäußert.
Doch nicht alle
lassen sich so leicht überzeugen wie Levenberg und Weltsch. Bei
einer Gruppe Menschen herrscht der Glaube vor, dass Anarchisten wilde
Gesellen sind, die Bomben werfen und Politiker ermorden. Eine
Kampagne, die sich über mehrere Monate in Zeitschriften wie der
Times gegen die „sogenannten Anarchisten“ hinzog, verstärkte
diese Auffassung. Es wurde immer betont, dass die Houndsditch Mörder
aus dem Jahr 1911 Anarchisten waren, sogar jüdische Anarchisten.
Erst zehn Jahre später führte ich eine Korrespondenz mit Sidney
Solomom, einem der führenden Mitglieder der Anti Defamation League,
dessen Aufgabe es war Juden gegen den Antisemitismus zu verteidigen.
Solomon hat im Jewish Chronicle ein neues Buch über die
Houndsditch Mörder rezensiert und angenommen, dass die Mörder
Antisemiten waren. „Ich weiß“, antwortete er mir, „dass die
anarchistische Bewegung eine gewaltlose Philosophie und Ideologie
vertritt und dass Menschen wie Kropotkin, niemals Gewalt predigten,
doch es gibt in der Bewegung gewalttätige Menschen, die schreckliche
Verbrechen begangen haben.“
Nein, Kropotkin hat
sicherlich weder Gewalt gepredigt noch praktiziert. Auch nicht Sir
Herbert Read. In einer Rezension über das Buch Anarchism
schrieb der Autor Michael Aukshtat im Spectator: „Man kann
sicher sein, dass Sir Herbert Reid noch nie in seinem Leben geplant
hat eine Bombe zu legen.“ Und der Journalist Phillip Gibbs besuchte
in der Zeit der Houndsditch Mörder einen anarchistischen Club und
sprach mit Rocker und anderen Anarchisten. Danach schrieb er: „Ich
könnte lachen angesichts der großen Angst, die man mir vorher
machte. Die dortigen Anarchisten waren mild wie Hasen. Ich bin
überzeugt davon, dass man bei keinem von ihnen ein Revolver finden
würde.“
Erwähnenswert ist
auch Souchys Artikel in der Fraye arbeter shtime vom Dezember
1972 über die Baader Meinhof Gruppe, in welchem er schreibt: „Sie
haben nicht den geringsten Bezug zur anarchistischen Bewegung. Die
deutschen Anarchisten lehnen die Gewalt der Stadtguerilla ab.“
Doch zurück zu Guy
Aldred und mir und unserer Auseinandersetzung über die Frage, ob
Rocker ein Riese gewesen ist oder nicht. Interessanterweise hatte
Gibbs den gleichen Eindruck wie ich: „Ein großer, stämmig
gebauter Mann, mit riesig breiten Schultern, einem großen, mächtigen
Kopf und einem starken Gesichtsausdruck.“
Rocker hat zu seiner
Zeit, wie er in seinen Memoiren schreibt, Erfahrungen mit
gefährlichen Menschen gehabt, nämlich einer Gruppe Menschen, die in
Geheimorganisationen in Russland tätig waren. So beispielsweise
Misha Toker, den Rocker so beschreibt: „Ein geborener Rebell, bei
dem jeder Gedanke unverzüglich in die Tat umgesetzt wird.“ Einen
anderen beschreibt er so: „Ein noch ernsterer Fall. Er war der
Organisator einer ganzen Reihe sogenannter Expropriationen und
anderen gefährlichen Unternehmungen.“
Rocker erzählt in
seinen Memoiren über die Londoner Jahre, dass der Zionismus damals
bei den Arbeitern eine unbedeutende Bewegung gewesen sei. Zwar war er
nicht völlig unbedeutend, doch hatte er mit Sicherheit nicht die
Bedeutung, die er heute unter den Arbeitern hat. Die Tage redete ich
mit Sam Drin darüber, der im Jahr 1917 Poale Zion beitrat und dort
eine wichtige Rolle einnahm, zugleich aber auch Rocker und seinen
Aktivitäten verbunden blieb. Zeiten ändern sich. Die Arbeiter, die
vom Zionismus einst weit entfernt waren, stehen der zionistischen
Bewegung und den Arbeitern in Israel heute so nah, dass ich in der
März Ausgabe der Fraye arbeter shtime 1973 las, wie sich ein
Leser, welcher der alten Zeit noch sehr verbunden war, darüber
beschwerte, dass die Fraye arbeter shtime dem Zionismus und
dem israelischen Staat zu sehr zugeneigt ist.
Es ist interessant
zu lesen, was Rocker über Z. Vendrof schreibt, der erst vor einem
Jahr in hohem Alter in Moskau verstarb, ein wichtiger
sowjetisch-jiddischer Schreiber, der die stalinistische Liquidierung
jiddischer Literaten überlebte und nach dem Tot Stalins aus einem
Lager entlassen wurde. Damals, sagt Rocker, während er in England
war, war Vendrof stark vom Zionismus vereinnahmt und es kam zwischen
uns zu langen Diskussionen bis er Zweifel an seiner alten
Überzeugungen hatte und sich unseren Ideen annäherte. Der arme
Vendrof. Als ich vor 40 Jahren Redakteur der JTA (Jewish Telegraph
Agency) war und er unser Korrespondent in Russland, schrieb er mir
einen Brief, wie gut es ist ein jiddischer Autor in der Sowjetunion
zu sein. Alles was er tun muss ist schreiben. Der Regierungsverlag
druckt die Arbeit, bezahlt dafür und verbreitet sie in der Auflage
von nahezu hunderttausend. Dann musste er die Liquidation der
jiddischen Autoren miterleben und wurde jahrelang in einem Lager
gemartert.
Rocker hat es
richtig gesehen und richtig gesagt - „Sozialismus und Freiheit ist
nicht möglich. Der Gedanke, die Menschen zum glücklich sein zu
zwingen ist lediglich Versklavung. Ohne die Freiheit des Wortes und
der Tat wird der Garten Eden die Hölle sein.“
Whitechapel hat sich
stark verändert. Ich, der achtzigjährige, gehe durch die alten, mir
bekannten Gassen und alte Juden laufen neben mir, doch sie sind nicht
von meiner Generation, sondern es sind sechzigjährige, die erst
geboren wurde, nachdem Rockers Tätigkeit in Whitechapel mit seiner
Verhaftung endete. Doch es gehen nicht nur die Lebende mit mir durch
die Gassen. Auch Geister gehen mit mir, die Seelen all derjenigen,
die damals in Whitechapel arbeiteten und lebten, kämpften und
hofften. Mehr kann ein Mensch nicht tun. In einem seiner Briefe
schrieb Rocker an mich: „Ich kann schon nicht mehr das tun, was ich
in den Jahren unserer goldenen Jugend tat. Ich führe meine
literarischen Arbeiten fort. Ich habe meine Jahre nicht verschwendet.
Und das ist ein gutes Gefühl, ohne auf das zu schauen, was wir alles
durchlebten.“
Mein letztes Wort
ist – Rocker gehört nicht nur zu der anarchistischen Bewegung und
der jüdischen Arbeiterbewegung; er ist, wie Linder zu sagen pflegte
ein nichtjüdischer Jude und gehört zum ganzen jüdischen Volk.
Josef Leftwich.
Dermonendik Rokern. In: Fraye arbeter shtime (Mai, Juni 1973), New
York: Free Voice of Labour Association, 1973.
Aus dem Jiddischen von RockerRevisited
Aus dem Jiddischen von RockerRevisited