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Friday 5 December 2014

Erinnerungen an Rocker

von Josef Leftwitch

Ich erinnere mich daran, als Rudolf Rocker starb und ich einen Nachruf über ihn veröffentlichte, fragte mich Rockers Schwager Guy Aldred, Witkops Mann, warum ich Rocker als physisch starken, stämmig gebauten Riesen beschrieb. Aldred, der wie die ganze Witkop-Rocker Familie ein naher Freund von mir war, wollte wissen, wie ich auf diesen Gedanken kam, denn seiner Erinnerung nach war Rocker ein ganz durchschnittlich gebauter Mensch, weit von einem Riesen entfernt.

Wie kam ich auf den Gedanken, dass Rocker ein Riese war? Aldred war ein gewöhnlicher Mensch, klein, schlank und agil. Zwischen den Schwagern war es nicht immer friedlich. Auch nicht mit Poli Witkops Mann, Ernst Zimerling, obwohl Zimerling und Rocker zusammen interniert waren und Rocker sich damals freute einen vertrauten Menschen um sich zu haben.


Zwischen Aldred und Rocker gab es politischen Streit. Beide waren während des Krieges inhaftiert, Rocker im Lager, wie andere Deutsche während des Krieges und Aldred im Gefängnis, als Engländer, der gegen den Krieg agitierte. Als Aldred nach dem Krieg entlassen wurde, deportierte man Rocker zurück nach Deutschland. In den Kriegsjahren sahen sie sich nicht. Danach auch nicht. In Rockers Buch In Shturm erwähnt er Aldreds Namen nur ein einziges Mal und als man Milly danach fragte, sagte sie: „Ja, er ist mein Schwager.“ „Und wo ist Aldred jetzt?“ „Er sitzt als Kriegsgegner im Gefängnis.“

Als es zur russischen Revolution kam, hielt Rockers Begeisterung nicht lange an. Doch Aldred wandte sich nicht von den Kommunisten ab; sie unterstützten sogar Aldred Kandidatur für das Parlament. Ich war damals Mitarbeiter der Zeitschrift The Spur, die von Guy und Rose Witkop herausgegebene wurde. Ich habe damals auch eigene Sachen gedruckt, darunter Gedichte von Josef Bovshover und anderen revolutionären Dichtern. Interessanterweise hat man im englischen Teil der Morgn frayheyt vom 30. April 1972 meine Übersetzung von Bovshovers Gedicht Revolutsie veröffentlicht, die ursprünglich im Jahr 1919 in The Spur erschien.

Guy Aldreds Nähe zu den Kommunisten und auch persönliche Gründe führten dazu, dass er und Rose sich trennten. Für Aldred, der einmal große Ambitionen und brillante Möglichkeiten innerhalb der revolutionären Bewegung hatte, war Rocker kein Riese. Für mich schon. Für mich, der als Schuljunge in der gleichen Straße wie Rocker gewohnt hatte und ihn damals sah, wie er, wie mit einer Lichkegel durch die Straßen ging, war er ein Riese. Und er blieb es als ich älter wurde und in Kreisen der Gruppe Arbeter fraynd verkehrte, ihn in seiner Wohnung besuchte und mich mit seiner Familie anfreundete.

Es gibt keinen Menschen der sich nicht an Rocker in jenen Londoner Jahren vor dem ersten Weltkrieg erinnert, jene goldenen Jahre, wie Rocker sie einst in einem Brief an mich nannte, als ich sein Buch In Shturm ins Englische übersetzte. Es sind jene Jahre, die mit seiner Verhaftung und Deportation endeten. Danach fand Rockers Karriere nicht mehr in London statt. Es leben kaum noch Genossen von damals, wie ich, der ich bei Ausbruch des Krieges 21 Jahre war und heute schon über 80 Jahre alt bin. Der einzige den ich kenne ist Sam Drin, mit dem ich in Kontakt stehe und der heute in Amerika in Milwaukee wohnt und mich jedes Jahr in London besucht. Bereits neunzig Jahre alt, ist er gerade hier und plant eine Feier zu Rockers Jubiläum. Und Fermin, Rockers Sohn, den ich schon als Kind kannte, ist auch mit seiner Familie hier.

„Die goldenen Jahre unserer Jugend“, so nannte Rocker jene Zeit in einem Brief an mich, jene Jahre in denen wir kämpften und hofften. Und so nannte sie auch mein lieber Genosse Linder. Als ich ihn einmal in New York besuchte, nahm er aus einem Schrank einen Brief und las ihn mir vor. Es war zu der Zeit, als ich Rockers Buch übersetzte. In dem Brief schreibt Milly an Linder: „Wenn du Leftwitch wieder schreibst, richte ihm aus, dass Rudolf und ich uns sehr über die Übersetzung freuen. Das Buch ist bei unserem alten Freund in guten Händen. Er wird es volle Liebe übersetzen.“
Jene goldenen Jahre unsere Jugend liegen jetzt so weit zurück, dass sie schon eher Legenden als Geschichten sind. Aus jene Zeit und deren Menschen ist fast schon ein Mythos geworden. Die heutige Desillusionen des täglichen Lebens haben zu einer Art „Hippi-Negativismus“ geführt, dem seine Anhänger den Namen Anarchismus geben, doch es ist ein Nihilismus, der eher negativ als positiv ist. Doch es gibt auch ehrliches Interesse am Anarchismus unter Intellektuellen. Und die Menschen sind neugierig auf die einstigen anarchistischen Theoretiker: Kropotkin, Malatesta und auch Rocker. Doch es entstehen Begriffe, welche die Gestalten und die Geschehnisse vernebeln. In der Fraye arbeter shtime und in Dos fraye vort vom August 1969 habe ich erzählt, wie man mich darum bat in einem Film über Malatestas Leben in London mitzuwirken und ich fand heraus, dass auch ich bei der heutigen Jugend zu einem Teil jener Legende wurde.

„Von unserer Bewegung sind nur schwache Spuren geblieben“, schrieb Rocker, „eine Bewegungen, die über Jahrzehnte hinweg fruchtbare und produktive Arbeit geleistet hat“. „ Ein Teil starb während des ersten Weltkrieges, ein Teil ging in der russischen Revolution verloren, ein Teil ging zurück nach Russland. Die Immigration hat aufgehört. Die Bewegung wurde durch grausame Bedingungen umgebracht. Rund zwanzig Jahre meines Lebens habe ich dieser schönen und fruchtbaren Bewegung geopfert. Ich bereue nichts daran. Es sind unvergessliche Jahre für mich“.

Rocker Errungenschaften betreffen nicht nur die anarchistische Bewegung. Er war eine Inspiration, einer Wortführer, ein Anführer der ganzen jüdischen Arbeiterbewegung in England. Wie hat es Rocker einmal ausgedrückt? „Alle jüdischen Gewerkschaften in Whitechapel wurden ausnahmslos auf Initiative von jüdischen Anarchisten gegründet. Die jüdische Arbeiterbewegung entstand meistens aus der unaufhörlichen Arbeit, die wir Jahr ein, Jahr aus durchgeführt haben. Selbst jene, die mit anderen Ideen verbunden waren, können nicht leugnen, was wir im Bereich des Gewerkschaftswesen geleistet haben.“

Das was Rocker damals schrieb liegt nicht lange zurück und wurde im Jahr 1972 von Dr. Levenberg übersetzt. Er ist einer der Anführer von Poale Zion und einer der besten Kenner der zionistischen Bewegung in England. In Vanguard, dem Organ der Poale Zion, erzählt Levenberg, dass „obwohl der Anarchismus als Organisation in der jüdischen Welt heute kaum noch besteht, es eine Zeit gegeben hat in welcher der Anarchismus auf die Entwicklung der jüdischen Arbeiterbewegung einen gewissen Einfluss hatte.“ Und über Rockers Bedeutung für die jüdischen Arbeitermassen Londons schreibt er: „Rocker war eine farbenfrohe Figur.“

Ich schrieb Levenberg, dass dieses Jahr Rockers hundertster Geburtstag gefeiert wird und habe ihn gefragt, ob er sich an der Feier für diese wichtigen Arbeiterführer beteiligen möchte. Er antwortete mir, dass „dieser Jahrestag ein wichtiges Datum in der Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung darstellt“ und dass auch er sich an den Feierlichkeiten in London beteiligen wird. Levenberg betonte auch Rockers Bedeutung als Redakteur jiddischer Journale und als Redner vor den jüdischen Volksmassen in Whitechapel.

Rockers Anteil an der jiddischen Journalistik und jiddischen Literatur habe ich an etlichen Stellen betont und im Jahr 1970 schrieb ich einen Artikel im Jewish Chronicle, der auch in anderen Ländern veröffentlicht wurde.

Ich habe auch anderen von Rockers Errungenschaften erzählt. Einer von ihnen war Robert Weltsch, ein wichtiger Publizist und ehemaliger Redakteur des Berliner zionistischen Journals Jüdische Rundschau. Er lieh sich meine Ausgabe von London Years und hat sich danach in der Nummer 15 der Leo Beck Bücher dazu geäußert.

Doch nicht alle lassen sich so leicht überzeugen wie Levenberg und Weltsch. Bei einer Gruppe Menschen herrscht der Glaube vor, dass Anarchisten wilde Gesellen sind, die Bomben werfen und Politiker ermorden. Eine Kampagne, die sich über mehrere Monate in Zeitschriften wie der Times gegen die „sogenannten Anarchisten“ hinzog, verstärkte diese Auffassung. Es wurde immer betont, dass die Houndsditch Mörder aus dem Jahr 1911 Anarchisten waren, sogar jüdische Anarchisten. Erst zehn Jahre später führte ich eine Korrespondenz mit Sidney Solomom, einem der führenden Mitglieder der Anti Defamation League, dessen Aufgabe es war Juden gegen den Antisemitismus zu verteidigen. Solomon hat im Jewish Chronicle ein neues Buch über die Houndsditch Mörder rezensiert und angenommen, dass die Mörder Antisemiten waren. „Ich weiß“, antwortete er mir, „dass die anarchistische Bewegung eine gewaltlose Philosophie und Ideologie vertritt und dass Menschen wie Kropotkin, niemals Gewalt predigten, doch es gibt in der Bewegung gewalttätige Menschen, die schreckliche Verbrechen begangen haben.“

Nein, Kropotkin hat sicherlich weder Gewalt gepredigt noch praktiziert. Auch nicht Sir Herbert Read. In einer Rezension über das Buch Anarchism schrieb der Autor Michael Aukshtat im Spectator: „Man kann sicher sein, dass Sir Herbert Reid noch nie in seinem Leben geplant hat eine Bombe zu legen.“ Und der Journalist Phillip Gibbs besuchte in der Zeit der Houndsditch Mörder einen anarchistischen Club und sprach mit Rocker und anderen Anarchisten. Danach schrieb er: „Ich könnte lachen angesichts der großen Angst, die man mir vorher machte. Die dortigen Anarchisten waren mild wie Hasen. Ich bin überzeugt davon, dass man bei keinem von ihnen ein Revolver finden würde.“

Erwähnenswert ist auch Souchys Artikel in der Fraye arbeter shtime vom Dezember 1972 über die Baader Meinhof Gruppe, in welchem er schreibt: „Sie haben nicht den geringsten Bezug zur anarchistischen Bewegung. Die deutschen Anarchisten lehnen die Gewalt der Stadtguerilla ab.“

Doch zurück zu Guy Aldred und mir und unserer Auseinandersetzung über die Frage, ob Rocker ein Riese gewesen ist oder nicht. Interessanterweise hatte Gibbs den gleichen Eindruck wie ich: „Ein großer, stämmig gebauter Mann, mit riesig breiten Schultern, einem großen, mächtigen Kopf und einem starken Gesichtsausdruck.“

Rocker hat zu seiner Zeit, wie er in seinen Memoiren schreibt, Erfahrungen mit gefährlichen Menschen gehabt, nämlich einer Gruppe Menschen, die in Geheimorganisationen in Russland tätig waren. So beispielsweise Misha Toker, den Rocker so beschreibt: „Ein geborener Rebell, bei dem jeder Gedanke unverzüglich in die Tat umgesetzt wird.“ Einen anderen beschreibt er so: „Ein noch ernsterer Fall. Er war der Organisator einer ganzen Reihe sogenannter Expropriationen und anderen gefährlichen Unternehmungen.“

Rocker erzählt in seinen Memoiren über die Londoner Jahre, dass der Zionismus damals bei den Arbeitern eine unbedeutende Bewegung gewesen sei. Zwar war er nicht völlig unbedeutend, doch hatte er mit Sicherheit nicht die Bedeutung, die er heute unter den Arbeitern hat. Die Tage redete ich mit Sam Drin darüber, der im Jahr 1917 Poale Zion beitrat und dort eine wichtige Rolle einnahm, zugleich aber auch Rocker und seinen Aktivitäten verbunden blieb. Zeiten ändern sich. Die Arbeiter, die vom Zionismus einst weit entfernt waren, stehen der zionistischen Bewegung und den Arbeitern in Israel heute so nah, dass ich in der März Ausgabe der Fraye arbeter shtime 1973 las, wie sich ein Leser, welcher der alten Zeit noch sehr verbunden war, darüber beschwerte, dass die Fraye arbeter shtime dem Zionismus und dem israelischen Staat zu sehr zugeneigt ist.

Es ist interessant zu lesen, was Rocker über Z. Vendrof schreibt, der erst vor einem Jahr in hohem Alter in Moskau verstarb, ein wichtiger sowjetisch-jiddischer Schreiber, der die stalinistische Liquidierung jiddischer Literaten überlebte und nach dem Tot Stalins aus einem Lager entlassen wurde. Damals, sagt Rocker, während er in England war, war Vendrof stark vom Zionismus vereinnahmt und es kam zwischen uns zu langen Diskussionen bis er Zweifel an seiner alten Überzeugungen hatte und sich unseren Ideen annäherte. Der arme Vendrof. Als ich vor 40 Jahren Redakteur der JTA (Jewish Telegraph Agency) war und er unser Korrespondent in Russland, schrieb er mir einen Brief, wie gut es ist ein jiddischer Autor in der Sowjetunion zu sein. Alles was er tun muss ist schreiben. Der Regierungsverlag druckt die Arbeit, bezahlt dafür und verbreitet sie in der Auflage von nahezu hunderttausend. Dann musste er die Liquidation der jiddischen Autoren miterleben und wurde jahrelang in einem Lager gemartert.

Rocker hat es richtig gesehen und richtig gesagt - „Sozialismus und Freiheit ist nicht möglich. Der Gedanke, die Menschen zum glücklich sein zu zwingen ist lediglich Versklavung. Ohne die Freiheit des Wortes und der Tat wird der Garten Eden die Hölle sein.“

Whitechapel hat sich stark verändert. Ich, der achtzigjährige, gehe durch die alten, mir bekannten Gassen und alte Juden laufen neben mir, doch sie sind nicht von meiner Generation, sondern es sind sechzigjährige, die erst geboren wurde, nachdem Rockers Tätigkeit in Whitechapel mit seiner Verhaftung endete. Doch es gehen nicht nur die Lebende mit mir durch die Gassen. Auch Geister gehen mit mir, die Seelen all derjenigen, die damals in Whitechapel arbeiteten und lebten, kämpften und hofften. Mehr kann ein Mensch nicht tun. In einem seiner Briefe schrieb Rocker an mich: „Ich kann schon nicht mehr das tun, was ich in den Jahren unserer goldenen Jugend tat. Ich führe meine literarischen Arbeiten fort. Ich habe meine Jahre nicht verschwendet. Und das ist ein gutes Gefühl, ohne auf das zu schauen, was wir alles durchlebten.“

Mein letztes Wort ist – Rocker gehört nicht nur zu der anarchistischen Bewegung und der jüdischen Arbeiterbewegung; er ist, wie Linder zu sagen pflegte ein nichtjüdischer Jude und gehört zum ganzen jüdischen Volk.


Josef Leftwich. Dermonendik Rokern. In: Fraye arbeter shtime (Mai, Juni 1973), New York: Free Voice of Labour Association, 1973.

Aus dem Jiddischen von RockerRevisited