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Monday 6 October 2014

Erste Begegnung mit jüdischen Anarchisten

von Rudolf Rocker

Während ich eines wunderschönen Frühlingsabends mit meinem Freund Liderle über den großen Pariser Boulevard spazierte, von prächtigem und brodelndem Leben umschlungen, was auf mich stets eine bezaubernde Wirkung hatte, fragte mich mein Freund, ob ich nicht Lust hätte mit ihm ein Treffen jüdischer Anarchisten zu besuchen. Zuerst dachte ich er macht Spaß, doch als ich merkte, dass er es ernst meint, fragte ich ihn überrascht:

„Jüdische Anarchisten? Nicht etwa katholische oder protestantische Anarchisten?“ „Nein, Nein“, antwortete er mir, „es ist so wie ich es dir sage. Es handelt sich nicht um religiöse Juden, doch es sind Juden, die soviel mit Religion zu schaffen haben wie wir.“ „Na dann“, sagte ich zu ihm, „sind sie doch auch keine Juden mehr, genauso wenig wie wir Christen sind.“

Er erklärte mir, dass es sich um sogenannte Ostjuden aus Russland, Polen und Rumänien handelte, die eine eigene ethnische Gruppe bilden und die eine Sprache sprechen, die so ähnlich klingt wie Deutsch.


Ich wurde sehr neugierig, denn ich hatte zuvor noch nie etwas von einer solchen Gruppe Menschen
gehört. Die Juden in Deutschland wurden wie Deutsche betrachtet, die sich von den anderen
Deutschen nur durch ihren Glauben unterschieden. An allen anderen Aspekten des Lebens
beteiligten sie sich genauso wie andere Deutsche auch. Unter meinen Bekannten und Freunden in
Deutschland befanden sich keine Juden. Das kam daher, da die Freunde aus meiner Heimatstadt
Mainz alle Arbeiter waren und die meisten Juden dort waren entweder kleine Händler oder gingen
einem freien Beruf nach, so dass ich keine Beziehung zu ihnen hatte. Einmal hörte ich bei uns Leute
über die Judenfrage reden, doch das waren Antisemiten und keine Juden.

In meiner Heimatstadt Mainz gab es keine antisemitische Bewegung, obwohl es eine bemerkenswerte
Anzahl Juden dort gab. Die Beziehung zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung war
friedlich und ich habe in meiner Jugend kein einziges Mal von einem Vorfall gehört, durch
den sich Widerwille gegen Juden ausgedrückt hätte. Solche Differenzen gab es jedoch zwischen
Katholiken und Protestanten in meiner Gegend. Sie entstanden beispielsweise als ein neuer
protestantischer Pastor mit dem Namen Linker ankam, was zu scharfen Kommentaren in den
lokalen Zeitschriften führte. Die Juden nahmen an den gleichen lokalen Ereignissen teil wie die
christlichen Mitbürger und sie gehörten den gleichen Organisationen und Vereinen an.

Unter der städtischen Bevölkerung hat sich der Antisemitismus nicht bemerkbar gemacht, doch er
hatte einen starken Einfluss auf die ländliche Bevölkerung, speziell im Gebiet Oberhessen, was zu
jener Zeit eine Festung der antisemitischen Bewegung in Deutschland war. In Oberhessen gab es
eine beträchtliche Anzahl verarmter Bauern, die schwer um ihre Existenz kämpfen mussten und die
mit den dortigen Großgrundbesitzern nicht konkurrieren konnten. Der Viehhandel in jener Gegend
lag seit Generationen in den Händen jüdischer Familien. Während des Mittelalter war es den Juden
nicht gestattet sich in der Industrie zu beschäftigen oder eigenen Boden zu besitzen, deshalb hatte
man für sie den Viehhandel reserviert, damit sie von etwas leben konnten. Dieser Handel wurde
dann von Generation zu Generation weitergegeben, auch nachdem die alten Ghettogesetze
abgeschafft wurden und die Juden die Gleichberechtigung mit den Deutschen zugesprochen
bekamen. Aufgrund des Viehhandels kamen die Juden regelmäßig in Berührung mit den Bauern und
oft waren sie der direkte Grund für die schlechte ökonomische Situation. Die Bauern wetterten
gegen die Juden nicht weil sie Juden waren, sondern weil sie in ihnen das Instrumente ihrer
ökonomischen Ausbeutung sahen.

Und genau dort war es wo die antisemitische Propaganda aufkam und wo sie ihre größten Erfolge
hatte. Der Bauer, der faktisch ein Opfer gewisser ökonomischer Prozesse war, deren tieferen Grund
er nicht verstand, hat die Juden für jedes Unglück, das ihn traf, verantwortlich gemacht und er hat
nicht verstanden, dass es im Grunde unwichtig ist, ob für seine Not nun Juden oder Christen
verantwortlich sind.

Unsere ganzen sozialistische Aktivitäten unter der ländlichen Bevölkerung, die wir als junge
Sozialisten verbreiteten, bestand darin den Bauern die objektive Situation zu erklären. Das war
nicht einfach und manchmal sogar gefährlich, denn nicht selten wurden wir von gereizten Bauern
mit Mistgabeln und Stöcken aus den Dörfern vertrieben. Die antisemitischen Redner befanden sich
in einer besseren Lage als wir, da sie die Juden für alles Unglück und Leiden der Bauern
verantwortlich machten, während wir versuchten sie mit den tieferen Gründen ihres Elends bekannt
zu machen. Wenn man zu politisch unbedarften Menschen spricht, ist man stets in einer schwierigen
Lage, denn es ist schwieriger jemanden zum Denken zu bewegen als zum blinden Fanatismus. Es
genügte, uns als jemanden im Dienste der Juden zu beschuldigen, um die Bauern gegen uns
aufzuhetzen. Im besten Fall qualifizierte man uns als unbewusste Helfer des Judaismus. In einer
poetischen Ausgabe des Antisemitismus zu jener Zeit konnte man das folgende Lied kennenlernen:
Selbst die alles wollen stürzen,
Gehen blind in ihre Falle;
Ja, die Sozialistenschwärmer
Für ein Marx und ein Lassalle.
So wurde ich schon in jungen Jahren als „Diener der Juden“ bezeichnet, obwohl ich noch nicht
einmal die Gelegenheit hatte Juden kennenzulernen. Die bekannten antisemetischen Redner aus
jener Zeit waren durchtriebene Demagogen, die es gut verstanden die Ignoranz der
Landbevölkerung auszunutzen, indem sie zu den Dorfleuten mit dem Versprechen der Erlösung
kamen. Wie unverschämt ihr Auftreten war, beweist die Phrase, die der bekannte, antisemitische
Anführer Lieberman von Sonnenberg in intimen Kreisen gebrauchte: „Meine hessischen Dorfleute
sind geduldig wie Hunde und schmutzig wie Schweine.“ Die anderen Anführer, die Pikenbars und
Bekels waren genauso. Den Mangel an Wissen haben sie durch unkontrollierte Hetze ersetzt und sie
machten den Eindruck als seien sie immer gerecht. Das ekelerregendste an der absurden Hetze,
welche die Massen anstachelte, war die Behauptung, dass die Juden alles Böse und jede
Niederträchtigkeit verkörperten und dass den geistig zurückgebliebenen Bauern Glauben gemacht
wurde, dass es auf der Welt eine spezielle Gruppe Menschen gibt, die darauf versessen ist die
christlichen Mitmenschen zu demoralisieren und zu verderben.

Mit diesen persönlichen Erfahrungen war ich noch gespannter auf das Versprechen meines
Freundes, das erste mal in meinem Leben die Bekanntschaft mit nicht-deutschen Juden zu machen,
die auch noch Genossen der selben Ideologie waren wie ich. Ich nahm die Gelegenheit gerne an und
wir gingen zum Boulevard Barbes, wo die jüdischen Anarchisten jeden Sonntag ihre Versammlung
abzuhalten pflegten. Das Lokal befand sich im ersten Stock eines Kaffeehauses, der zu diesem
Zweck angemietet war. Als wir dort ankamen, trafen wir auf 50 bis 60 Männer und Frauen, die um
kleine Tische herumsaßen und sich lebhaft unterhielten. Einige lasen Zeitungen mit hebräischen
Buchstaben. Das waren, wie ich später erfuhr, anarchistische Ausgaben des Arbeter fraynd, die
damals in London herausgegeben wurde und der Fraye arbeter shtime, die in New York
herausgegeben wurde.

Die eigentliche Versammlung hatte noch nicht begonnen und Niderle, den man in den Kreisen
schon kannte, machte mich mit einigen seiner jüdischen Freunde bekannt, die mich herzlich
begrüßten. In den Kreisen gab es nur eine kleine Anzahl Personen, die aussahen wie die Juden aus
meiner Gegend. Die meisten von ihnen hätte ich nicht als Juden erkannt, wenn ich ihnen auf der
Straße begegnet wäre. Wenn man mir gesagt hätte es wären Italiener, Griechen oder Spanier, dann
hätte ich das geglaubt. Einige von ihnen hätte man für Deutsche oder Skandinavier halten können.
Einige von ihnen hatten ausgesprochen mongolische Züge. Ich hatte mich damals noch nicht mit
den sogenannten Rassenproblemen beschäftigt, aber schon damals war mir klar, dass so wie bei
allen anderen Völkern auch, die Juden keine einheitliche Rasse sind.

Was mich mehr wie alles andere überraschte war die Sprache, die man dort redete. Es klang in
meinen Ohren wie ein unbekannter deutscher Dialekt, den ich noch nie zuvor gehört hatte und der
mit Wörtern durchdrungen war, die sich für mich wie unbekannte Fremdwörter anhörten. Mit einer
gewissen Aufmerksamkeit konnte ich verstehen, was geredet wurde und sie konnten auch mich
verstehen. Danach fiel mir auf, dass ich beim Zuhören einige derjenigen die redeten leichter
verstand wie andere und das brachte mich auf den Gedanken, dass auch die Sprache nicht
einheitlich ist und dass es Dialekte gibt wie in anderen Sprachen. Doch als der Redner dieses
Abends, mein späterer Freund Lifshits, das Wort an sich nahm, wurde ich erneut überrascht: einige
Stellen habe ich sehr gut verstanden, doch auf einmal kamen ganze Sätze und Ausdrücke in einer
mir unverständlichen Sprache. Zum Glück verstand mein Freund Niderle diese Ausdrücke. Erst
später wurde mir das Rätsel klar. Niderle war ein Tscheche, der nur sehr schlecht die deutsche
Sprache beherrschte. Lifshits redete damals in einem Gemisch aus Jiddisch und Russisch. Und auch
einige der dortigen Zuhörer verstanden ihn sehr schwer, denn sie waren aus Rumänien, Palästina
oder Ägypten und für sie war Russisch eine unverständliche Sprache. Aber Niderle, als Slawe, war
teilweise mit dem russischen Vokabular vertraut, was für mich und andere ein verschlossenes Buch
gewesen ist.

Später, als ich die jüdischen Genossen besser kennenlernte, erfuhr ich, dass die Pariser Gruppe von
russisch-jüdischen Studenten gegründet worden war, die der Zufall nach Frankreich geführt hatte.
In der Anfangszeit der Gruppe redete man dort nur Russisch. Doch als die Gruppe größer wurde
und an Einfluss auf die jüdischen Arbeiter gewann, war man gezwungen die Referate und Debatten
auf Jiddisch zu führen, damit die Besucher es besser verstehen. Für die Gründer der neuen
Bewegung war das schwerer, denn die russische Sprache war ihnen vertrauter wie die Jiddische.
Man darf nicht vergessen, dass die jiddische Sprache sich erst damals richtig zu entwickeln begann.
Die Schwierigkeiten wurden mit der Zeit überwunden und die Gründer gewöhnten sich an die
Sprache, die ihnen dann sehr nützlich war.

Von diesem Abend an wurde ich ein regelmäßiger Gast beim Treffen auf dem Boulevard Barbes und
auf Bitten meiner neuen jüdischen Freunde hielt ich sehr oft Referate in deutscher Sprache. Da ich
mich anstrengte beim Reden möglichst wenig schwierige Wörter zu benutzen und soweit wie
möglich einfach zu sprechen, wurde ich gut verstanden und die Versammlungen waren gut besucht,
denn zu den Referaten kamen auch deutsche Genossen. Ich wurde akzeptiert und zu einem nahen
Freund der jüdischen Genossen, die geistig sehr aktiv gewesen sind und ich wurde zu einem
bevorzugten Gast in ihrem Zuhause. So eröffnete sich für mich eine ganz neue Welt, die mir bis
dahin völlig unbekannt gewesen ist.

Zwei Erscheinungen waren es, die damals auf mich den stärksten Eindruck machten. Die erste
davon war, dass die Juden, die ich aus Deutschland kannte, zum Mittelstand gehörten. Sie waren
kleine Händler, Mediziner, Advokaten, Journalisten, Techniker, usw. Es gab keinen einzigen
Arbeiter unter ihnen. Sogar die Verkäufer und Angestellten, die in den Geschäften ihres Chefs
angestellt waren, waren eine besondere Klasse Menschen, die keine besonderen Bezüge zur
eigentlichen Arbeiterschaft hatten. Aber die Juden aus den östlichen Ländern, denen ich in Paris
begegnete, waren alle, mit wenigen Ausnahmen Arbeiter, die ihren Unterhalt als Schneider,
Schuster, Schriftsetzer, Tischler oder Uhrmacher verdienten. Selbst jene, die in Russland eine
höheren Schule besucht hatten, übten in Paris ein Handwerk aus um zu überleben. Sie waren in
keiner Weise anders wie die Arbeiter der anderen Völker und sie haben mit ihrem Beispiel
bewiesen, dass das berühmte Vorurteil über den parasitären Charakter der Juden, das ich von den
Anhängern des Antisemitismus so oft hörte, bloß eine lügnerische und falsche Behauptung ist.
Die zweite Erscheinung, die auf mich einen starken Eindruck machte, war das Benehmen der
Frauen in diesen Kreisen. In der Gegend aus der ich komme, habe ich kein einziges Mal Frauen
gesehen, die sich politisch betätigten oder einer revolutionären Bewegung angehörten. Die
politischen Versammlungen wurden nur von Männern besucht. An den Frauen hatten sie kein
Interesse und sie haben nicht versucht auf die Frauen Einfluss zu nehmen. Es stimmt, dass es in
Berlin, Hamburg und in anderen größeren Städten eine bürgerliche und sogar sozialistische
Frauenbewegung gab, doch in den kleineren Städten und auf dem Dorf hatten sie keinen merkbaren
Einfluss. In der Arbeiterklasse oder bei den verarmten Bauern war es damals sehr schwer einer Frau
zu begegnen mit der man sich über allgemeine oder gesellschaftliche Fragen unterhalten konnte.
Aber dort, in den Kreisen meiner neuen jüdischen Freunde in Paris, lag die Sache anders. Zu den
Versammlungen kamen Frauen und Männer. Die Frauen beteiligten sich lebendig an den Debatten
und lasen die revolutionäre Literatur mit der gleichen Hingabe wie die Männer. Alle Beziehungen
zwischen den Männern und Frauen waren so frei und natürlich, wie ich es in Deutschland kein Mal
gesehen habe. Doch dort konnte man sich mit den Frauen über alle möglichen Angelegenheiten
unterhalten und vergaß dabei, dass es sich um eine Person vom anderen Geschlecht handelte. Sie
verhielten sich auch nicht wie die Suffragetten jener Zeit, die glaubten, dass die Befreiung des
Geschlechts dadurch erreicht werden kann, indem sie sich wie Männer verhalten. Nein, die Frauen
dort waren sehr weiblich und sogar sehr mütterlich. Ihre Freiheit war sicherlich eine innerliche und
hatte ihren Ursprung im Bewusstsein von der menschlichen Würde und der Gleichberechtigung von
allem mit menschlichen Antlitz. Einige von ihnen, besonders jene, die sich bereits in der geheimen
Bewegung in Russland beteiligt hatten, wiesen gewisse puritanischen Eigenschaften auf, was an die
Frauen erinnerte, die Stepniak in seinem Buch Das geheime Russland beschrieben hatte.
Die erste nähere Bekanntschaft innerhalb der jüdischen Kreise hatte ich zur Familie Silberman.
Silberman war der Besitzer einer kleinen Schneiderwerkstatt auf dem Boulevard Menilmontant, wo
er gemeinsam mit seiner Frau alle Arbeiten verrichtete. Angestellte hatte sie keine, denn das war
gegen ihre Prinzipien. Beide waren einfache und ehrliche Arbeiter, die schon weit auf der Welt
herumgekommen waren. Sie waren aus Jerusalem und hatten schon in Ägypten, Griechenland,
Türkei, Italien und eine kurze Zeit in Amerika gelebt, bevor sie in Paris sesshaft wurden, wohin es
sie besonders gezogen hatte. Die Silbermans gehörten zu den Gründern der Gruppe des Boulevard
Barbes und waren sehr aktiv. Sie opferten jede freie Minute für die Gruppe. Mit der Zeit wurden wir
nahe Freunde und ich erlebte in ihrer Wohnung viele angenehme Stunden. Golde Silberman war
eine ausgezeichnete Köchin, die oftmals seltene und mir unbekannte arabische Speisen zubereitete.
Wenn wir nach dem Essen delikaten und schmackhaften Mokkakaffee tranken und sich der Geruch
türkischer Feigen über uns legte, fühlte ich mich wie in einer fremden Welt.

Mein Freund Rodinson und seine Frau Tania waren völlig anders. Beide kamen aus der russisch studentischen Jugend und sie sprachen untereinander sehr viel Russisch. Rodinson ging in Russland
in die gleichen Schule wie Lifshits und Chaim Zhitlovsky: später machte er eine starke Veränderung
durch und wurde zu einem der angesehensten Kenner des jüdischen Nationalismus. Er musste
wegen seinen Beziehungen zu der revolutionären Bewegung ins Ausland fliehen. In Paris musste er
ein Handwerk lernen und als ich ihn kennenlernte hat er Regenmäntel hergestellt. In seiner
bequemen Wohnung in der Rue Charbon war in einem Zimmer eine Werkstatt eingerichtet, wo er
zusammen mit seiner Frau arbeitete. Er war ein geistig und intellektuell hochbegabter Mensch, eine
selten ehrliche Natur und jeder, der in Berührung mit ihm kam, wurde sein Freund. Die Genossen
hatten grenzenloses Vertrauen zu ihm, was kein einziges Mal gestört wurde.

Rodinsons Appartment war ein ständiger Treffpunkt der russischen Emigranten. Jeden Sonntag
Nachmittag konnte man dort 10 bis 12 russische Genossen treffen, unter ihnen auch einige
Nichtjuden. Das erste Mal als ich zu den spontanen Treffen kam, war ich sehr überrascht. An den
Wänden des Zimmers hingen Bilder bekannter russischer Revolutionäre, darunter ein großes Bild
von Michael Bakunin, auf das man damals in fast allen Wohnungen der jüdischer Genossen stieß.
Um einen großen runden Tisch saßen Männer und Frauen im lebhaften Gespräch. In der Mitte des
Tisches stand eine große Wasserpfeife, die pfiff, rauchte und gurgelnde Geräusche von sich gab. Die
Russen sind starke Teetrinker. Darüber hatte ich bereits etwas gelesen., doch dort sah ich mit
eigenen Augen, wie man zehn bis zwanzig Tassen Tee trinken kann, wobei man ein kleines Stück
Zucker in den Mund legte, und man fühlte sich gut wenn einem der Schweiß von der Stirn rann.
Die Wasserpfeife macht einen außergewöhnlichen Eindruck auf mich. Sie rief einen Gemütszustand
hervor, den man nicht anders als angenehm bezeichnen kann und ich verstehe, warum die
russischen Poeten so viel Loblieder darauf sangen. Es war wunderbar schön im Kreise der lieben
und intelligenten Menschen, mit denen man sehr interessante Gespräche führen konnte. Dort habe
ich viele Sachen verstanden, die mir früher fremd und unbekannt waren.

In jenen Kreisen gab es eine große Anzahl Personen, die wegen ihrer revolutionären Betätigung
nach Sibirien zu harter Arbeit verschickt worden waren und die dort einige Jahre gelebt hatten, bis
sie auf die ein oder andere Weise befreit worden sind. Noch in Deutschland hatte ich das Werk des
Amerikaners George Kennan über Sibirien gelesen, in welchem er Dantes Phrase „Lasciate ogni
speranza voi ch'entrate“ (dt.: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!) verarbeitet. Das
genannte Werk hatte zu seiner Zeit für großes Aufsehen gesorgt. Es wurde in alle wichtigen
Sprachen übersetzt und machte auf mich einen großen Eindruck. Und jetzt saß ich da zusammen mit
einem Menschen, dem Genossen A. Gordon, dem Kennan in Sibirien begegnet war und der mir
bestätigte, dass das Werk von Kennan mehr für die politischen Verschickten geleistet hat, wie alles
was davor darüber geschrieben worden war. Gordon lebte fünf Jahre als Verschickter in Irkutsk.
Man hat ihn deshalb verschickt, weil er sich an der revolutionären Arbeit beteiligt hatte, obwohl
man keine faktischen Beweise gegen ihn finden konnte. Doch er war ein verdächtiger Mensch. Die
Polizei fand in seiner Stube zwei verbotene Bücher, die in allen anderen europäischen Ländern frei
erhältlich waren. Das reichte aus, um ihn dem Kreis seiner Freunde und Familie zu entreißen und
nach Sibirien zu verschicken.

A. Gordon, den ich Stück für Stück immer besser kennenlernte, gehörte zu den intelligentesten
Menschen jenes kleinen Kreises. Er führte mit seiner Frau ein sehr armes Leben, doch er war weder
niedergeschlagen noch entmutigt. In seiner Gegenwart fühlte ich stets eine außergewöhnliche
Zufriedenheit und wenn ich ihn darum bat, erzählte er von seinen Erlebnissen in Sibirien. Er pflegte
dies stets sehr bescheiden und unprätentiös zu tun. Selbst dann, wenn er Sachen erzählte, die mich
sehr aufgeregt haben, klagte er nie über die erlebten Ungerechtigkeiten. Es war eine Eigenschaft,
die man bei vielen Russen beobachten konnte. Sie erzählten von den bittersten, persönlichen
Erfahrungen, doch man merkte ihnen keinmal Emotionen oder Verzweiflung an. Das war ein
Zeichen starker Selbstbeherrschung, die sie sich in der harten und schweren Schule des Lebens
erworben hatten.

Auch Gordons Bruder, David, hielt sich damals in Paris auf. Während A. Gordon und seine Frau zu
den Anarchisten gehörten, hatte David marxistische Meinungen. Er war ein guter Redner und hat
ohne Unterlass unter den jüdischen Arbeitern für die sozialdemokratischen Prinzipien geworben,
allerdings ohne großen Erfolg. Obwohl wir gegensätzlich ideologischen Ansätze hatten und uns bei
öffentlichen Diskussionen stritten, wirkte sich das nicht auf unsere persönlichen Beziehungen aus.
Man war in jenen Kreisen im großen und ganzen toleranter, als ich es aus Deutschland kannte.
Einer der eigenartigsten Menschen, denen ich während jener Zeit unter den jüdischen
Revolutionären begegnete war Shlomo Rapaport, der in der jiddischen und russischen Literatur
unter dem Pseudonym Salomon An-Ski berühmt geworden ist. Das erste Mal begegnete ich ihm in
Rodinsons Haus. Der stille, dünne Mensch mit ausgezehrtem Gesichtsausdruck und träumerischen
Augen beteiligte sich nicht an den Gesprächen und nahm die Rolle eines stillen aber aufmerksamen
Zuhörers ein. Zuerst hatte ich wenig Gelegenheit ihn besser kennenzulernen, bis mich ein Zufall für
längere Zeit mit ihm zusammenführte. Als Rodinson mir einmal erzählte, dass sich Rapaport mit
Buchbinderei beschäftigt, fing ich bei der nächsten Gelegenheit ein Gespräch mit ihm darüber an.
Bei diesem Gespräch habe ich ihm von meiner schlechten und engen Werkstatt erzählt, in welcher
ich arbeitete. Da schlug er mir vor mit ihm zusammenzuarbeiten. Er meinte, dass die Ausstattung
seiner Werkstatt auch nicht besser sei als meine, aber zusammen wären wir in der Lage uns
gegenseitig zu helfen und dem anderen zur Hand zu gehen.

Der Plan gefiel mir. Die Gelegenheit bei der Arbeit mit jemanden ein Wort zu wechseln war
verlockend für mich. Und so einigten wir uns. Rapaport wohnte damals in einer armseligen
Wohnung in der Rue St. Jacques, wo er zugleich wohnte und arbeitete. Seine technische Einrichtung
war nicht besser als meine und ziemlich verwahrlost. Ich musste bald einsehen, dass er kein sehr
bewandter Buchbinder war. Später hat mir jemand erzählt, dass er während seines stürmischen
Lebens in Russland die Buchbinderei von einem Freund beigebracht bekommen hatte. Er war in der
Lage einen einfachen Leineneinband herzustellen, doch die speziellen Arbeiten des Faches waren
ihm unbekannt.

Nachdem ich das bisschen Werkzeug zurechtgemacht und einen Teil meines Werkzeuges zu ihm
gebracht hatte, kam ich jeden Tag in seine Wohnung, bis ich drei oder vier Monate später eine
andere Stelle fand. Mein Freund Rapaport war ein sehr talentierter Mensch, doch seine rührende
Bescheidenheit stand ihm im Weg. Wenn dies nicht gewesen wäre, dann hätte er schon damals die
Position eingenommen, zu dem ihn sein Intellekt befähigte. Er lebte damals in großer Armut, was
man auf den ersten Blick sah. Seine Bescheidenheit war unbegrenzt und ich bin überzeugt davon,
dass er sich damals regelmäßig nur von Brot und Tee ernährte ohne uns davon zu erzählen.
Abgesehen von seiner anziehenden Freundlichkeit, war er zu Beginn etwas schüchtern und
zurückhaltend, doch mit der Zeit wurde er immer zugänglicher. Während der Arbeit haben wir uns
über alle möglichen Angelegenheiten unterhalten, insbesondere, versteht sich, über soziale
Probleme, die uns interessierten. Er erzählte mir von der Bewegung „Narodniki“ in Russland, an
welcher er persönlich beteiligt war und über sein Leben unter den russischen Arbeitern und Bauern,
die er für seine Ideen zu gewinnen suchte. Sein bemerkenswerte Beobachtungsgabe verlieh seinen
Erzählungen einen außergewöhnlichen Reiz. An jedem seiner Worte spürte man, welche Zuneigung
er für die russischen Bauern empfand. Obwohl er aus eigenen Beobachtungen und aus eigenen
Erfahrung wusste, wie geistig zurückgeblieben und abergläubisch die ländliche Bevölkerung in
Russland ist, unterstrich er stets die Tatsache, dass die Bauern aus seinem Land einen stärker und
besser entwickelten Sinn für soziale Solidarität besitzen, wie die Bauern und sogar die Arbeiter in
Westeuropa. Dies steht bei den gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen auf dem russischen
Dorf an erster Stelle. In anderen Ländern, pflegte er zu sagen, müssen die Revolutionäre den
sozialen Geist, der die wichtigste Voraussetzung für die Veränderung der Gesellschaft ist, erst
entzünden, aber in Russland lebt dieser Geist im Volk, so dass die revolutionäre Bewegung lediglich
angestoßen werden muss, damit die Ziele der großen französischen Revolution angenommen
werden.

Für mich war diese Gedankenschule neu. Wir in Deutschland haben am stärksten auf die
industriellen Entwicklung als Voraussetzung des gesellschaftlichen Wandels im sozialistischen Sinn
geschaut, wobei wir die Schattenseiten dieser Entwicklung im großen und ganzen übersehahen. Wir
verstanden nicht, dass, obwohl die industrielle Entwicklung der Gesellschaft soziale Konflikte
hervorrief und Unzufriedenheit verbreitete, sie zugleich auf der anderen Seite, durch die starke
Abschwächung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und durch die einseitige Akzentuierung
egoistischer Bestrebungen, bestimmte geistige Konditionen hervorrief, welche die sozialistische
Veränderung der Gesellschaft sicher nicht begünstigten. Diese Interpretation ist auch der Grund
dafür, warum sich Rapaport der sogenannten „deutschen Kultur“ gegenüber sehr skeptisch verhielt.
Er hatte eine verhohlene Angst vor der „deutschen Gründlichkeit“ und er war der Meinung, dass in
dem Drang danach alles in ein bestimmtes Schema zu pressen, die Deutschen den Menschen nicht
auf der Rechnung hatten und sie einen falschen Weg begehen, von dem aus keine guten Resultate zu
erwarten sind. Zu viel Systematisierung, pflegte er zu sagen, zerstört die Seele des Menschen und
damit auch jedes soziale Gleichgewicht.

Rapaport versicherte mir stets, dass er den größten Respekt vor den technischen Fähigkeiten der
Deutschen habe, diese Fähigkeit aber nur dann nützlich sei, wenn sie im Dienst eines guten
Zweckes steht und sie ihre Basis im ethischen Bewusstsein des Menschen hat. Doch
unglücklicherweise deutet alles darauf hin, dass die herrschende Klasse in Deutschland dieser
Zweck nicht interessiert. Sie konzentriert ihre ganze Kraft darauf Europa auf einen Weg zu bringen,
der für die geistige und gesellschaftliche Entwicklung in Europa fatal enden wird. Die Gefahr
vergrößert sich dadurch, dass dem deutsche Volk, trotz seiner vielen guten Eigenschaften, die
Widerstandskraft gegen die Angriffe der Regierungskaste fehlt. Zu viele Gesetze vernebeln die
Vision eines Volkes und führen zu dem trügerischen Glauben, dass die Bestrebungen und Absichten
ihrer Unterdrücker auch ihre eigenen seien.

Diese Ideen haben viel mit den Vorstellungen von Domela Nieuwenhuis gemein, von dem ich
bereits gehört hatte und dessen Vorstellungen sich in mein Gedächtnis eingeprägt hatten. Ich habe
seit jener Zeit über diese Worte nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass Rapaport und
Nieuwenhuis die Lage besser eingeschätzt haben als diejenigen, die in Deutschland den
Fahnenträger der kommenden sozialen Veränderung in Europa sahen.

Zuviel Disziplin ist gefährlich für ein Volk. Und wenn diese Disziplin mit einer großen technischen
Kapazität verbunden ist, dann ist dies doppelt gefährlich. Deutschlands spätere Entwicklung zur
Barbarei des Dritten Reiches wäre ohne den Ersten Weltkrieg nicht möglich gewesen, doch es ist
kaum übertrieben zu behaupten, dass Hitlers Sieg nur durch den toten Kadavergehorsam möglich
war, der in Deutschland verbreiteter ist als in anderen Ländern

Rapaport hatte gegenüber seiner Heimat Russland eine rührende Zuneigung und er betrachtete jeden
Tag den er im Ausland verbringen musste, wie einen verlorenen Tag in seinem Leben. Dies war eine
Eigenschaft, die ich bei einigen russischen Juden damals beobachtete. Und das beweist, dass die
falsche und unsinnige Behauptung der sogenannten Rassentheoretiker, dass bei den Juden, bei allen
Juden, jedes Heimatgefühl fehlt, nicht richtig ist. Dieses Heimatgefühl ist nicht mit dem
Nationalismus und der Unterwürfigkeit unter dem totalen Staat vergleichbar, welche jede Liebe zur
Heimat zerstören, das Leben eines Volkes automatisiert und alles auf den gleichen Ton einstellt.
Jene Monate, die ich mit Rapaport zusammenarbeitete, blieben mir unvergesslich. Auch später traf
ich mich oft mit ihm und nach jedem Treffen verspürte ich die intensive Befriedigung die Zeit mit
einem stillen und geistreichen Menschen verbracht zu haben, bei dem ich keine Spur jener
Eigenschaften vorfand, welche die Antisemiten von Juden behaupteten.

Später wurde Rapaport der Privatsekretär des bekannten russischen Revolutionärs Peter Lawrow
und er behielt diese Stelle bis zum Tod Lawrows im Jahr 1900. Dank ihm lernte ich Lawrow auch
persönlich kennen. In der kurzen Zeit der Zusammenarbeit zwischen Rapaport und mir banden wir
einige Bücher für ihn. Lawrow war damals schon ein über siebzig Jahre alter Mann und man
merkte, dass er früher einmal Offizier gewesen war. Aufgrund seiner Beteiligung an der
revolutionären Bewegung in Russland und seinen literarischen Aktivitäten wurde er von allen
sozialistischen Richtungen in Paris sehr respektiert.

Als die zaristische Regierung als Konsequenz der Geschehnissen des Jahres 1905 gezwungen war
eine große Amnestie zu veranlassen, kehrte auch Rapaport nach Russland zurück, wo er bis zu
seinem Lebensende einer fruchtbaren Tätigkeit als jiddischer und russischer Schreiber nachging.
Während der Zeit der anarchistischen Gruppe in Paris gab es auch einen kleinen
sozialdemokratischen Verein, dessen Mitglieder sich jeden Samstag in einem kleinem Lokal in der
Nähe des Place de la Bastille trafen. Zu den wichtigsten Mitgliedern dieses Kreises gehörten David
Gordon und A. Bek, ein Nichtjude russischer Herkunft, der den jüdischen Arbeitern sehr nahe stand.

Diese Gruppe war sehr klein und ihre Versammlungen wurde nur von sehr wenig Leuten besucht.
Doch wenn das Thema der Versammlung eine Debatte mit den Anarchisten war, dann war der
Andrang sehr groß. Als mich Gordon einmal darum bat vor diesem Kreis ein Referat über gewisse
Ereignisse innerhalb der sozialistischen Bewegung Deutschlands zu halten, kam es danach zu einem
heftigen Streit wegen taktloser Bemerkungen von Bek, was dazu führte, dass der
sozialdemokratische Verein keine Anarchisten mehr zu seinen Versammlung einlud. Nur für mich
machten sie eine Ausnahme. Es versteht sich von selbst, dass ich dieses Privileg nicht in Anspruch
nahm, sondern meine regelmäßigen Visiten eingestellt habe. Der sozialdemokratische Verein führte
ab dieser Zeit ein sehr isoliertes Leben und nach einer gewissen Zeit verschwand er ganz aus der
Szene.

Zwischen den Anarchisten und Sozialdemokraten gab es damals in Paris noch eine unparteiische
Organisation, deren Mitglieder Sozialisten aus den verschiedensten Richtungen war. Ihre Treffen
fanden jeden Freitag Abend in dem Kaffeehaus Tresor in der Vielle du Temples statt und es kamen
jedesmal ungefähr 150 bis 200 Menschen. Dieses Zusammenkommen war jedesmal sehr anregend,
denn es bot sich die Gelegenheit für Diskussionen zwischen den verschiedenen Richtungen. Es gab
dort Anarchisten, Sozialdemokraten, einige alte Anhänger der Narodniki und Genossen, die den
speziellen Ideen von Lawrow nahestanden. Der Großteil der Referate wurde auf Jiddisch gehalten,
doch zeitweise gab es auch Reden in Russisch, Französisch und Deutsch. Bei den Treffen herrschte
stets ein sehr toleranter Geist und die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Anhängern der
verschiedenen Richtungen waren immer sehr freundlich. Obwohl die Anarchisten in der Überzahl
waren und sie über die besten Redner verfügten, wurde niemand benachteiligt, da den Anhängern
der anderen Richtungen jede Möglichkeit zum freien Gedankenaustausch gegeben wurde. Der eine
hat versucht den anderen zu überzeugen und dadurch wurden die Probleme vertieft und mit neuen
Argumenten versehen.

Während der Zeit meines Aufenthaltes in Paris hielt ich einige Vorträge im Kaffeehaus Tresor und
beteiligte mich regelmäßig an den dortigen Debatten. Und ich muss sagen, dass die Diskussionen
mit den Anhängern der anderen Tendenzen für mich eine gute Schule war. In anderen deutschen
Kreisen hat man immer schon im voraus gewusst, welche Argumente der Gegner nutzt, denn alle
hatten dieselbe Schule durchlaufen und unsere Meinung wurde durch die spezielle Art und Weise
unserer Ideologie bestimmt. Dort aber hatte ich die Gelegenheit Interpretationen zu hören, die unter
ganz anderen Lebensbedingungen entstanden waren und zu ganz anderen Konstruktionen führten,
die mir im großen und ganzen neu gewesen sind. Nichts ist in der Lage den Geist so anzuregen wie
fremde Umgebungen und neue Erfahrungen. Sie verbreitern den geistigen Horizont und schärfen
den Verstand.

In Paris lernte ich auch S. Yanovsky kennen, der damals der Redakteur des Londoner
anarchistischen Wochenblatts Arbeter fraynd gewesen ist. Yanovsky kam auf Wunsch einiger
Genossen nach Paris um dort auf der großen Jom Kippur Versammlung zu reden, die von den
Genossen arrangiert wurde und bei der auch ich als Redner aufgetreten bin. Yanovsky war ein sehr
fähiger Journalist und sein Journal hatte großen Einfluss auf die jüdische Arbeiterschaft. Er befand
sich damals in der Blüte seines Lebens und besaß eine große Willenskraft und vor seiner beißenden
Ironie erschraken seine Gegner.

In jener Zeit in Paris schloss ich Freundschaften unter den jüdischen Arbeitern, die mein ganzes
Leben anhielten. Und noch heute blicke ich mit einer großen inneren Befriedigung auf diese seit
langem vergangene Zeit. Die Gründe, die mir diese Zeit so lieb und unvergesslich machen, sind die
Reinheit der Überzeugungen, der lebendige Glaube an ein gerechtes Ideal und die unbegrenzte
Opferbereitschaft der Menschen. Und obwohl der größte Teil jener Männer und Frauen ihren
Lebensunterhalt unter den schwersten Bedingungen verdienten, waren sie doch stets hilfsbereit und
gaben alles um ihrer Überzeugung zu dienen.

Und als die jüdische Frage aufgrund der nationalen Revolution in Deutschland eine weltweite
Bedeutung bekam und die Juden in verschiedenen Ländern in einer noch nie dagewesener Art und
Weise verfolgt wurden, die alle bisherigen Verfolgungen und Brutalität in den Schatten stellt, wurde
das Bedürfnis in mir noch größer, etwas gegen diese Barbarei und diesen Schmutz zu tun. In meiner
langjährigen Beziehung zu Juden aus verschieden Ländern ist mir keinmal eine Sache begegnet, in
der sich die Juden von anderen ethnischen Gruppen unterschieden haben. Ich hatte niemals den
Eindruck, dass die Juden das Salz der Erde sind. Vielmehr stehen meine Gedanken und mein
Gefühle im stärksten Gegensatz zu der barbarischen Interpretation, dass die Juden alleinig wegen
ihrer Abstammung für alles Übel in der Gesellschaft verantwortlich seien. Bis zum heutigen Tag ist
der Hass auf die Juden in allen Ländern ein Mittel der finstersten Reaktion.

Die Position eines Volkes zu den Juden ist ein Prüfstein für seine Fähigkeit zum gesellschaftlichen
Fortschritt. Der Geist der Demokratie und des Liberalismus hat die Tore des alten Ghettos für die
Gleichberechtigung geöffnet und zur juristischen Gleichberechtigung geführt. Wer die Juden wieder
in das alte Ghetto sperrt, der sperrt sich selbst in das noch größere Ghetto der Barbarei und der
geistigen Finsternis. Das nationalsozialistische Deutschland ist der beste Beweis dafür. Der
Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben hat das deutsche Volk nicht freier und glücklicher
gemacht. Es führte alleinig dazu, dass das deutsche Volk mit noch größeren Ketten belastet wurde;
es erstickte seine menschlichen Fähigkeiten und führte zu einer Niederträchtigkeit, welche die
ganze Welt in großes Unglück stürzte. Der gelbe Davidstern und das gelbe Abzeichen erniedrigen
nicht die Opfer, sie sind vielmehr das Kennzeichen einer feigen Barbarei und stellen die Täter
außerhalb der menschlichen Familie.

Rudolf Rocker. Ershte bagegenish mit yidishe anarkhistn, in: Fraye arbeter shtime. Vol. 3001, 3002, 3003, 3004 (1.05.1973, 1.06.1973, 1.7.1973, 1.8.1973), New York: The Free Voice of Labour.

Aus dem Jiddischen von RockerRevisited

Originale: Die Vorlage der Übersetzung ist ein in vier Teile aufgeteilte Text, der von Mai bis August 1973 anlässlich des 100. Geburtstages Rockers in der Fraye arbeter shtime erschien. Die Scans der Juni, Juli und August Ausgaben folgen.
FAS, Mai 1973, S.2


FAS, Mai 1973, S.3