von Rudolf Rocker
Erst nach dem Niedergang dieses
schändlichen Gesetzes und mit der Entstehung der Bewegung der
"Unabhängigen Sozialisten" (1891) hob eine neue Ära für
die anarchistische Bewegung in Deutschland an. Die Polizei
unterdrückte bald den ersten Versuch der Anarchisten ein
selbstständiges Organ in Deutschland zu schaffen, was die Bewegung
allerdings nicht daran hinderte ihren Weg in die Öffentlichkeit zu
finden.
Von den verschiedenen anarchistischen
Richtungen waren zuerst nur der revolutionäre kommunistische
Anarchismus bekannt und selbst die Anhänger dieser Richtung waren
sich zu Beginn über dessen Ideen und Bestrebungen unklar. Die ganze
anarchistische Literatur beschränkte sich auf etliche
Agitations-Broschüren von Johann Most, Kropotkin, Reklu und einige
andere. Es existierte kein größeres theoretisches Werk in jener
Epoche und die Geschichte der Bewegung in anderen Ländern war
gänzlich unbekannt.
Zu jener Zeit erschien "Die
Anarchisten"; durch dieses Werk wurden die deutschen Anarchisten
zum ersten Mal mit einer neuen Richtung bekannt: dem
individualistischen Anarchismus. Das Buch rief gewaltige Diskussionen
im anarchistischen Lager hervor und man kann nicht sagen, dass es
viele Anhänger fand. Man hat es zum Lesen lieb gehabt, denn der
Autor hatte für die Entwicklung seiner Anschauungen die Romanform
gewählt, doch nur wenige fühlten sich von den Ideen und
Bestrebungen angezogen, die der Verfasser als die eigentliche und
einzige Lehre des Anarchismus vorgestellt hat.
Auch später, nachdem sich die
anarchistische Bewegung in Deutschland besser entwickelt hatte, und
als die Ideen und Theorien der anarchistischen Lehre breiter und
tiefer von ihren Verteidigern aufgefasst worden sind, blieb die
Wirkung von Mackays Buch gleich. Man hat es als Kunstwerk geschätzt,
als die geniale Arbeit eines bedeutenden Dichters, aber in
theoretischer Hinsicht schrieb man ihm keine große Wichtigkeit zu.
In Wirklichkeit hat Mackay den
individualistischen Anarchismus nicht durch neue Ideen und originelle
theoretische Auffassungen bereichert. Wir finden bei ihm nicht die
philosophische und theoretische Tiefe eines Belgarik, Warren oder
eines Andrus und sicher nicht die glänzenden publizistischen
Fähigkeiten eines Tucker; auch sein Versuch die Ideen des
kommunistischen Anarchismus zurück zuweisen ist sicher nicht
besonders glücklich. Er konnte Menschen mit tieferen Überzeugungen
und selbstständigen Meinungen nicht überzeugen.
Manche behaupten sogar Mackays Werk sei
historisch nicht richtig. Seine ganze Auffassung von Bakunins
Persönlichkeit ist beispielsweise sehr einseitig und unklar. Auch
weiß man heute überall, dass der sogenannte "revolutionäre
Kommunismus" über die "Pflichten eines Revolutionärs zu
sich alleine und zu seinen Revolutionsgenossen" nicht das Werk
von Bakunin sondern von Netschajew gewesen ist.
Das ganze Buch hatte zuerst einen ganz
anderen Charakter bekommen. Mackay machte sich erst 1887 mit der
sozialistischen und anarchistischen Bewegung bekannt und im gleichen
Jahr beschloss er das Werk zu schreiben. Das große Ereignis dieses
unvergessenen Jahres: die Bewegung der Arbeitslosen in London, die
blutigen Kämpfe zwischen der Bevölkerung und der Polizei auf
Trafalgar Square und hauptsächlich die schreckliche Tragödie in
Chicago gaben dem Künstler und Dichter genügend Stoff dieses Werk
zu schaffen; aber seine eigene geistige Entwicklung hat ihn davon
abgehalten diesen Plan zu auszuführen. Erst vier Jahre später
erschien das Buch unter dem Namen "Die Anarchisten" und der
Charakter war ein ganz anderer, wie der Autor zuerst beabsichtigt
hatte.
1889 entdeckte Mackay das geniale Werk
von Max Stirner "Der Einzelne und sein Eigentum", welches
im Jahr 1845 erstmalig erschien. Aber dieses merkwürdige Buch,
vielleicht das originellste Werk in der ganzen Weltliteratur, wurde
vollständig vergessen, genau wie sein genialer Autor. Erst durch
Mackay, wurde das Werk ein zweites Mal bekannt und wir haben ihm auch
dafür zu danken, dass die wenigen biographischen Materialien über
Max Stirner nicht vollständig verloren gegangen sind.
Stirners Buch hatte eine entscheidende
Wirkung auf Mackays geistige Entwicklung. In Obans philosophischen
Betrachtungen hören wir deutlich einen Abklang von Stirners Ideen,
seine Sprache erinnert uns oftmals stark an Stirners Schrift.
Aber das ist gerade die theoretische
schwache Seite von Mackays Werk, weil der Einfluss von Stirners
genialer destruktiver Philosophie, die alle religiösen, politischen
und soziale Begriffe in seine kleinsten Atome auflöst, den Verfasser
ausschließlich auf einfache Negationen und rein kritische
Bemerkungen beschränkt. Die Diskussion zwischen Oban und Trup, die
eigentlich den Unterschied zwischen den beiden Richtungen
Individualismus und Kommunismus erklären soll und welche beweisen
soll, dass die Kommunisten überhaupt kein Anarchisten sind, berührt
nur rein äußerliche Fragen und hat überhaupt keinen tieferen
Inhalt. Dabei ist anzumerken, dass manche Behauptungen, welche
Oban-Mackay seinem Opponenten Trup in den Mund legt, nicht nur ein
bisschen zu einseitig sind, sondern einfach falsch. Wenn Trup
beispielsweise den kommunistischen Jakobiner Babef zu einem
Vorkämpfer des kommunistischen Anarchismus erklärt, dann ist das
einfach absurd und absurd ist auch die Behauptung, dass der
konsequente Kommunismus von jedem Mann einfordert, er solle die
sexuellen Bedürfnisse jeder Frau befriedigen und umgekehrt. Eine
solche grundlose Behauptung wirkt noch unangenehmer wenn wir uns
daran erinnern, dass Trup keine Fantasiegestalt ist, sondern sich in
ihm einer der charakteristischsten Typen der konspirativen
anarchistischen Bewegung zu jener Zeit verkörpert (Otto Rinke,
gestorben in Amerika). Eingestehend, dass der kommunistische
Anarchismus in jener Periode in vielen Beziehungen noch primitiv und
unterentwickelt gewesen ist (die wichtigsten theoretischen Werke aus
dieser Richtung waren noch gar nicht veröffentlicht), fühlt der
Leser aber instinktiv, dass Trup seine Position mit besseren
Argumenten hätte verteidigen können und dass Oban-Mackay sich die
Sache ein wenig zu bequem gemacht hat.
Doch diese theoretische Schwäche
beeinflusst nicht den künstlerischen Wert von "Die
Anarchisten". Die wunderbare und eindrucksvolle Beschreibung der
Hölle Londons, die traurige Wanderung durch "das Reich des
Hungers", die gelungene Darstellung der großen Ereignisse ,
welche sich in jener Zeit in der englischen Hauptstadt abgespielt
haben und endlich die lebenswarme Beschreibung der schrecklichen
Tragödie in Chicago, das alles macht dem Leser das Buch teuer und
langfristig für spätere Generationen wertvoll. Die bekannten
Persönlichkeiten in dem Lager der revolutionären Immigranten in
London sind größtenteils gut gezeichnet und wer die Älteren aus
der Londoner Bewegung noch kannte, erkennt sie bald.
In all diesen Beschreibungen
manifestiert sich der wahre Künstler; wir fühlen den warmen Hauch
der Ereignisse, die der Dichter uns vorstellt und lesen über
Persönliches, dass alleinig er überlebte.
R. Rocker
Quelle: John Henry Mackay. Di anarkhisten. m. Vorwort von Rudolf Rocker, Bd.1, London: Arbeter fraynd, 1908.
Link: www.archive.org
Übersetzung: 09.11.2011