von Rudolf Rocker
„Haschisch" ist eine wunderbare und geheimnisvolle Blüte im reichen Blumenkranz der orientalischen Poesie. Der Dichter der Legende ist unbekannt; es ist sogar möglich, dass diese Legende erst im Laufe der Jahre von verschiedenen Autoren in eine bestimmte Form gebracht worden ist.
Über die eigentliche Heimat
der Legende wissen wir nicht viel, doch wir begegnen ihr in der
ganzen orientalischen Welt von Marokko bis Indien. Ihre Formen
unterscheiden sich zwar, der Inhalt ist allerdings immer gleich.
Wahrscheinlich entwickelte sich der eigentliche philosophische
Grundgedanke von "Haschisch" zuerst in Indien, in diesem
uralten Kulturland, das voll ist mit rätselhaften und
geheimnisvollen Erscheinungen. Die Muslime lernten die Legende zu
jener Zeit kennen, als sie große Teile des Landes erobert hatten.
Doch das ist nur eine Hypothese.
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Das Haschisch ist eine
giftige Pflanze, die in Marokko, Tunis, Ägypten, Syrien, Arabien,
Persien, Indien und Siam die gleiche Rolle spielt wie das Opium in
Tibet, China und Japan. Die Bevölkerung dieser Länder genießen ihn
auf verschiedene Weise: manche vermischen den Haschisch-Saft mit
anderen schmeckenden Stoffen und machen daraus allerlei Süssigkeiten.
Aber meistens wird das Haschisch wie Opium oder Tabak geraucht.
Die Wirkung nach der
Einnahme ist eine ganz wunderbare. Der Haschisch-Raucher tritt aus
sich heraus, sein Geist verlässt für etliche Stunden die prosaische
Wirklichkeit und schwebt hinüber in einen farbigen, Welt-vergessenen
Traum.
Passionierte Haschisch
Raucher, wie Baudelaire, Verlain und andere haben erklärt, dass die
Wirkung des Haschisch viel reiner und lebendiger wie die des Opium
ist. Eine der merkwürdigsten Erscheinungen, für die es bis heute
keine eindeutige Erklärung gibt, ist die wunderbare Wirkung des
Haschisch auf den musikalischen Instinkt des Menschen. Das Haschisch
ist der Schöpfer der „klingenden Farben“, d.h., für den
Haschisch-Raucher bekommt jede Farbe einen bestimmten Klang. Er sieht
eine Farbe nicht nur, er hört sie auch mit seinen Ohren. Der blaue
Himmel, die grünen Blätter der Bäume, die sich verändernden
Farben des Meeres, der Sonnenschein, das alles verwandelt sich in ihm
in einen wunderbaren Strom aus Tönen. Er genießt die Harmonie der
Landschaft oder ein Kunstwerk auf eine musikalische Weise und die
harmonische Vereinigung der Farben ruft in ihm den Klang rauschender
Akkorde und geheimnisvoller Melodien hervor.
Aber der Haschisch Raucher
muss teuer für seine Leidenschaft bezahlen. Das tödliche Gift
trocknet ihm das Blut in den Adern und das Mark in den Knochen aus;
sein Geist verliert die natürliche Lebenskraft und sein Körper
zehrt aus wie ein Skelett. Nur ganz wenige können sich von dieser
furchtbaren Leidenschaft befreien. Die meisten Haschisch-Raucher sind
verlorene Menschen. Jene, deren Geist einmal in diesem Land der
„klingenden Farben“ und rauschenden Höhen gewesen ist, wollen
nicht mehr in die brutale Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens
zurück. Der Haschisch-Raucher verkauft das Leben für einen Traum.
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Was den Inhalt der Legende
anbelangt, macht sie dazu keinen Kommentar. Der Leser wird leicht den
philosophischen Fatalismus erkennen, welcher symbolisch in den
Figuren Josef, Mara und Zora angelegt ist. Es ist das alte Problem in
orientalischen Kleidern. Es ist die große Frage, welche alle
Kultur-Völker beschäftigte und aus der die großen Gestalten der
Weltliteratur hervorgegangen sind: Faust, Hamlet, Don Quichote, der
junge Medardus, usw.. Jede Bevölkerung hat ihre "Nirvana-"
und "Sansara-" Dichter, die ihre Probleme haben mit Traum
und Wirklichkeit. Es lässt sich sogar mit Recht von "Nirvana-"
und "Sansara-" Perioden in der Geschichte reden.
Es sind jene Epochen, in
denen der Mensch die Wirklichkeit um jeden Preis zu vergessen sucht,
in denen er mit Verachtung auf alle Wünsche, Bedürfnisse und
Hoffnungen des materiellen Lebens schaut und seinen Geist alleine auf
die großen Rätsel der Ewigkeit konzentriert. Gewisse Perioden in
der Geschichte des alten Ägyptens, Indiens, Persiens und jene zwei
mystischen Jahrhunderte des europäischen Mittelalters verkörpern
diese Nirvana-Stimmung, als der Alptraum die einzige Wirklichkeit für
die Denker und Künstler gewesen ist und das wirkliche Leben ein
hässlicher Traum.
Es waren solche Perioden,
als „Sansara“ die Verkörperung des rauschenden und kochenden
Lebens, die Gedanken und Gefühle der Menschen erfüllte. Das Leben
in seinen tausenden und millionen verschiedenen Formen, mit seinen
ewigen Kämpfen und Verwandlungen war das höchste Ideal, welche jene
Seelen durchdrang. Die Mahavira-Periode in Indien, die Blütezeit der
alten griechischen Kultur und die große historische Ära der
Renaissance, waren Sansara-Perioden in der menschlichen Geschichte.
In solchen Epochen wird aus den Alpträume der Vergangenheit Fleisch
und Blut und schöpferische Kraft und erfüllt die Welt mit Leben;
Kampf und Tätigkeit.
Der Nirvana-Mensch träumt;
der Sansara-Mensch schafft. Beim ersten ist der Wunsch rein geistig
und der Genuß löst sich in nichts auf. Beim zweiten ist der Wunsch
der Vater der Tat, die körperliche Form und Gestalt annimmt - er
löst sich nicht auf, er kristallisiert sich in einer lebendigen
Schöpfung.
Die Legende "Haschisch"
enthält nicht die ganzen Definitionen von "Nirvana" und
"Sansara", obwohl sie von diesen Lehren stark beeinflusst
worden ist.
Ali, der Haschisch-Raucher
stirbt in dem Moment, als der Traum endet und er die Wirklichkeit
erkennt, das Ideal von dem er geträumt – Suleika, die göttliche,
die einst in der Quelle ewiger Jugend gebadet. Aber er begreift noch
den großen Fehler seines Lebens und die ewige Liebe verzeiht ihm
seine Schwäche.
Es ist derselbe tiefe
Gedanke, der uns in der Literatur aller Länder und Bevölkerungen
immer wieder begegnet, derselbe alte Gedanke, ewig neu und frisch, so
jung wie der Tag, der sich Bahn bricht durch die Finsternis der
Nacht, ein ewiges Symbol, gefasst in großen Worte: Am Anfang steht
die Tat!
R.R.
Quelle: Fritz Lemmermayer. Hashish: an oryentalishe legende. übers. u. m. Vorwort von Rudolf Rocker. London: Arbeter fraynd, 1911.
Übersetzung: 08.09.2011