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Tuesday 2 February 2016

Die Geschichte der terroristischen Bewegung Frankreichs. Einleitung

von Rudolf Rocker

Die Geschichte der revolutionären Bewegung Frankreichs ist an interessanten Einzelheiten außergewöhnlich reich, kein anderes europäisches Volk hat eine solche revolutionäre Vergangenheit durchlebt, kein Volk hat so viel für den allgemeinen Fortschritt der menschlichen Entwicklung geleistet wie das Französische. Seit der großen französischen Revolution ist Frankreich ständig an der Spitze der sozialistischen Bewegung Europas marschiert und selbst in der reaktionärsten und finstersten Periode der europäischen Geschichte war dieses Land die einzige Hoffnung für alle progressiven und freidenkerischen Elemente. Frankreich ist die Mutter des modernen Sozialismus, und in allen anderen Ländern wurde die sozialistische Bewegung von den großen französischen Denkern und Theoretikern der sozialistischen Lehre direkt beeinflusst und befruchtet. Kein Land hat eine solche gewaltige sozialistische Literatur aufzuweisen wie Frankreich, eine Literatur, die sich mit allen Einzelheiten der sozialistischen Weltanschauung sowie den taktischen und praktischen Fragen der sozialistischen Bewegung auseinandergesetzt hat.  Die sozialistische Literatur in Frankreich war und ist noch heute eine lebendiger Quell für sozialistische und progressive Strömungen, die sich in der ganzen internationalen Arbeiterbewegung manifestieren und die, mit Ausnahme der ersten sozialistischen Periode in England, allesamt vom französischen Sozialismus beeinflusst und bestimmt worden sind.


Sogar der sogenannte „wissenschaftliche Sozialismus“, der uns von seinen Anhängern als eine ganz einzigartige und selbstständige Entdeckung von Engels und Marx vorgestellt wird, ist eigentlich nichts anderes als eine schlechte deutsche Übersetzung bestimmter französischer Theorien und Anschauungen. In Wirklichkeit waren die Grundprinzipien des marxistischen Sozialismus in Deutschland – der ökonomische Fatalismus oder wie es die Deutschen nennen, die „materialistische Geschichtsauffassung“, die sogenannte „Mehrwerttheorie“, die „Lehre von Klassenkampf“ und die Theorie der „Konzentration des Kapitals“ - in Frankreich schon lange bekannt, nur, dass Engels und Marx sich die Mühe machten sie zu „entdecken“.  Alles was die beiden am wissenschaftlichen Sozialismus entdeckt haben, war es die klaren und bestimmten Ideen der französischen Denker mit einer unfruchtbaren Dialektik, mit der man alles beweisen und alles leugnen kann, und mit den metaphysischen Begriffen der deutschen Philosophie, die besonders von der Theorie Hegels beeinflusst war, zu vermischen. Ohne Proudhon und Viktor Considerant in Frankreich , hätten wir in Deutschland sicher nicht einen Marx und einen Engels gehabt, oder anders gesagt: keinen „wissenschaftlichen Sozialismus“, und ohne den französischen Staatssozialisten Louis Blanc hätte Lassalle niemals seine Forderung nach staatlichen Produktivgenossenschaften propagiert.

Aber die französischen Sozialisten waren nicht nur unserer Lehrer der Theorie, sondern auch der Taktik. Und in den Ländern, in denen die Arbeiterklasse in dieser Beziehung nicht von ihnen lernte, blieb die sozialistische Bewegung hinter ihren theoretischen und taktischen Entwicklung zurück.

Vor dem deutsch-französischen Krieg 1870 bis 1871 war der Einfluss des französischen Geistes in Europa eine ganz natürliche und selbstverständliche Erscheinung, die sich ganz auf die revolutionäre Tradition und die reiche Erfahrungen dieses Landes gründete. Wenn wir beispielsweise die Geschichte der Internationalen Arbeiter Assoziation studieren, so werden wir herausfinden, dass die theoretische und taktische Entwicklung dieses mächtigen Arbeiterbundes, der in sich über zwei Millionen Proletarier in allen modernen Kulturländern vereinigte, gänzlich von französischen Elementen beeinflusst worden ist. In Deutschland existierte die „Internationale“ überhaupt nicht und der größte Teil der deutschen Arbeiterbewegung lag in den Händen der Lasalianier – die Marxisten waren zu jener Zeit sehr schwach in Deutschland – welche wiederum den Strebungen und Tendenzen der „Internationalen“ feindlich gegenüber standen.

Aber nach der Gründung des siegreichen deutschen Kaiserreiches mit dem militärischen Räuberstaat Preußen an der Spitze, und hauptsächlich nach der schrecklichen Niederlage der Pariser Kommune, welche die besten und aktivsten Elemente der französischen Arbeiterbewegung verschlang, entwickelte sich in ganz Europa eine furchtbare Reaktion. In Frankreich wurde der sozialistische Gedanke mit den brutalsten und schändlichsten Mitteln verfolgt und in dieser gefährliche politischen Lage entwickelte sich die nationalistische Reaktion mit allen ihren schrecklichen Folgen. In Spanien entstanden nach dem Niedergang der kantonalistischen Revolution von 1873 ganz ähnliche Verhältnisse und in Italien erklärte man die Anhänger der „Internationalen“ zu „Malfattori“, zu Verbrechern außerhalb bürgerlicher Ordnung und Rechts. In diesen drei Ländern, welche früher an der Spitze der europäischen Arbeiterbewegung marschierten, hat die Reaktion einen mörderischen Charakter angenommen. Jede sozialistische Zeitung wurde unterdrückt, alle öffentlichen Organisationen der Arbeiter wurden zerstört und die sozialistische Propaganda war über lange Zeit hinweg auf die unterirdische  Tätigkeit konspirativer Gruppen und Vereinigungen beschränkt.

In derselben Zeit nahm der politische Zustand in Deutschland einen ganz neuen Charakter an. Die deutsche Bourgeoisie sah in dem neu entstandenen deutschen Kaiserreich ein ausgezeichnetes Mittel um ihre industriellen und kommerziellen Pläne zu verwirklichen und sie war mit Freuden bereit den  militärisch-zentralistischen Despotismus Bismarcks zu dulden, solange er ihre ökonomischen Interessen befriedigte. Auf der anderen Seite hat Bismarck das allgemeine Wahlrecht eingeführt um damit die Arbeiterklasse zu befriedigen, was ihn allerdings nicht viel kostete, denn das allgemeine Wahlrecht wurde nur für den deutschen Reichstag eingeführt, jedoch nicht für die Parlamente der einzelnen Bundesländer, welche vor dem deutschen Kaiserreich standen und wo die Regierung noch heute einen halb-feudalistischen Charakter besitzt.

Die deutschen Sozialisten haben sich schnell dem Geschenk der kaiserlichen Regierung zugewandt; die Marxisten waren zwar am Anfang noch misstrauisch, aber die Lassalleaner griffen mit beiden Händen danach und später, als sich beide Parteien vereinigten und die deutsche Sozialdemokratie gründeten, wurde die politische Aktion, der „parlamentarische Kampf“ das einzige taktische Mittel der deutschen Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen die Bourgeoisie und die kaiserliche Regierung. Diese Taktik wurde die erste und einzige Taktik der deutschen Arbeiterklasse und deshalb macht es einfach einen lächerlichen Eindruck, wenn sich heute Menschen ohne jedwede taktische Erfahrung hinstellen und sich als Lehrer der Arbeiterklasse aufspielen. In theoretischer Beziehung hat der deutsche Arbeiter seit 1863 keine andere Sache gelernt als den Staatssozialismus von Marx und Lassalle, in taktischer Beziehung kennt er nur die politische Aktion und wenn er in letzter Zeit begonnen hat sich mit dem „politischen Massenstreik“ zu beschäftigen, dann alleine deshalb, weil die starke Propaganda für den Generalstreik in den romanischen Ländern, vor allem in Frankreich, in dazu zwang.

Als die deutsche Sozialdemokratie also für eine gewissen Zeit durch ihre Theorie und Taktik die Entwicklung der sozialistischen Bewegung in den meisten Ländern Europas beeinflusst hat, kam das nicht von einer großen geistigen Entwicklung oder reichen taktischen Erfahrung , sondern alleine durch den großen politischen Überbau, den Bismarcks Politik und Frankreichs Niederlage in Europa verursachten und vor allem wegen der schrecklichen Reaktion, die über viele Jahre hinweg jede sozialistische Propaganda in den romanischen Ländern erstickte.

Eine der gewöhnlichen Phrasen, die man in Deutschland hauptsächlich gebraucht, wenn man von der französischen Arbeiterklasse spricht, ist die unbegründete Behauptung, dass der französische Arbeiter von dem revolutionären Instinkt mehr beeinflusst ist, als klaren Vorstellung seiner  Ideen und Mittel auszuführen. Diese Behauptung ist einfach lächerlich und jeder der die Geschichte der französischen Arbeiterbewegung mehr oder weniger kennt, dass in keinem Land die Frage nach der Taktik so viel diskutiert wurde wie in Frankreich. Der französische Arbeiter hat die verschiedensten Mittel in seinem Kampf für die soziale Befreiung ausprobiert und keine Volk hat in dieser Beziehung eine solche reiche Erfahrung durchgemacht wie die Franzosen.

Es gab die konspirativen Organisationen der Babefisten, die das kapitalistische System durch einen Aufstand vernichten wollten. Später entwickelte sich der sogenannte „Experimentelle Sozialismus“ der Saint Semonisten, die Fourieristen und die Anhänger von Cobet und Desamis, welche die Welt durch die Gründung kleinerer und größerer sozialistischer Kommunen innerhalb oder außerhalb der heutigen Gesellschaft von der Richtigkeit der sozialistischen Idee überzeugen wollten, genau wie es die Cobetisten versuchten, als sie nach Amerika auswanderten um dort ihre sozialistischen Pläne zu verwirklichen. Zu dieser Zeit begann die Entwicklung der französischen Arbeiterkorporationen. Tausender Arbeiter gründeten kooperative Werkstätten, um mit Hilfe der Assoziation die soziale Frage zu lösen. Louis Blanc und seine Anhänger predigten die Organisation der Arbeit durch den Staat, und die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse. Proudhon hat versucht die sozialistische Volksbank“ zu gründen, welche den Arbeiterkooperativen die Möglichkeit eröffnen sollte Mittel für die Produktion zu berschaffen um auf diese Weise den Kapitalismus durch die Gewährung freier Kredite zu vernichten und die „Ausbeutung eines Menschen durch einen zweiten Menschen und die Herrschaft eines Menschen durch einen zweiten Menschen“ zu beenden. Die Pariser Kommune war der erste großartige taktische Versuch das Prinzip der Regierung durch autonome Verwaltung zu vernichten. Von 1891 bis 1895 gab es eine Periode individueller terroristischen Taten, die mit dem Attentat von Ravachol begann und mit der Hinrichtung des Präsidenten Carnot durch Caseria endete. Heute gibt es die großartige Gewerkschaftsbewegung, welche die „Direkte Aktion“ der Arbeiterklasse propagiert. Sie agitiert für den sozialen Generalstreik um die kapitalistische Gesellschaftsortung zu paralysieren und zu vernichten, während sie die heutigen Gewerkschaften als Zelle einer neuen und freien Gesellschaft ansehen, durch welche die Arbeiter später die Produktion und Konsumption organisieren.

Jede einzelne dieser Phasen der taktischen und theoretischen Entwicklung der französischen Arbeiterklasse war mit der höchsten Anstrengung verbunden, mit unzählbaren Opfern und persönlichen Leiden und mit Begeisterung und individueller Entschlossenheit, der in den meisten anderen Ländern schwer zu finden ist. In allen diesen Unternehmungen des französischen Proletariats hat die persönliche Initiative die größte Rolle gespielt, denn die blinde Disziplin der kleingeistigen Parteianschauungen waren keinmal im Stande solche Resultate hervorzubringen.

Wenn die französische Arbeiterklasse ganz Europa mit ihren Ideen befruchtete, wenn der französische Sozialismus ständig Lehrer und Initiator sozialistischen Propaganda in anderen Ländern ist, mit einem Wort, wenn das französische Proletariat bis heute an der Spitze der internationalen revolutionären Bewegung marschierte, dann nicht deshalb, weil ein politischer Zufall ihnen diese Stellung verschaffte, nein, die französischen Arbeiter haben sich ihre Stellung
 innerhalb der sozialistischen Bewegung deshalb verdient, weil sie es mit dem Herzblut ihrer besten und nobelsten Elemente bezahlten, durch ihre reiche praktische Erfahrung und durch ihre unermüdlichen theoretischen Forschungen.

In den folgenden Kapiteln versuchen wir die wichtigste Periode in der Geschichte der französischen Arbeiterbewegung, die Periode von „Ravachol bis Caserio“ zu erklären und vorzustellen. Es ist wahr, dass diese Periode verhältnismäßig kurz gewesen ist, doch die Propaganda die in etlichen Jahren gemacht worden ist, war gewaltig. Sämtliche Journale und Zeitungen haben sich mit den anarchistischen Ideen beschäftigten, etliche Bücher und Broschüren wurden in jener stürmischen Zeit geschrieben und der Anarchismus beeinflusste die ganze öffentliche Meinung in Frankreich. Es war eine merkwürdige Zeit. Das Gericht, dessen Aufgabe es normalerweise ist Verbrecher zu bestrafen, wurde zu einer öffentlichen Tribüne für die anarchistische Propaganda. Tausende und tausende Menschen , die sich noch nie mit der anarchistischen Lehre und Theorie beschäftigt hatten,, wurden plötzlich Sympathisanten unserer Idee und einige von ihnen haben sich zu begeisterten Kämpfer und Propagandisten der anarchistischen Weltanschauung entwickelt.

Staatsmänner, Politiker, Juristen, Philosophen, Dichter, Schriftsteller, Maler, Journalisten, alle haben sich an der öffentlichen Debatte über den Anarchismus und die Anarchisten beteiligt. Es war eine Periode des geistigen Erwachen; der reaktionäre Geist, der über zwanzig Jahre hinweg jede revolutionäre Entwicklung erstickte, jeden rebellischen Gedanken der Volksmassen, hat plötzlich seine finstre Kraft verloren und der persönliche Mut hat sich wieder in den Herzen der Elenden und Unterdrückten entwickelt. Diese kurze Periode war das Ende einer Zeit voller Gleichgültigkeit und Feigheit und der Beginn einer neuen Phase der französischen Arbeiterbewegung.

Kein Zweifel, ihre Wirkung war zuerst rein negativ, diese Periode hätte nicht länger anhalten können, aber sie legte das Fundament für die jetzige Bewegung mit allen ihren wunderbaren Erscheinungen. Sie vernichtete den Respekt vor den „geheiligten Institutionen“ der heutigen Gesellschaft und den Aberglauben an die „politische Aktion“. Viele der Männer, die zu jener Zeit aktiven Anteil an der Bewegung nahmen, stehen heute in den Reihen der antiparlamentarischen revolutionären Gewerkschaftsbewegung und propagieren dort unermüdlich den Generalstreik und den direkten Kampf der Arbeiter.

Rudolf Rocker. Die geshikhte fun der teroristisher bevegung in frankreykh. London: Farlag arbeter fraynd, 1906, S. 3-11.

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