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Monday 16 January 2012

Vorwort Rudolf Rockers in "Liebes-brief" von Multatuli

von Rudolf Rocker

Es war im Jahr 1960 als in der Stadt Amsterdam ein Buch mit dem befremdlichen Titel „Max Havelaar oder die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft“ erschien. Der Autor dieses Werkes nannte sich Multatuli und bald fand man heraus, dass er ein hoher Beamter der holländischen Regierung in den indischen Kolonien gewesen ist: ein gewisser Eduard Douwes Dekker, der mit Absicht das lateinische Wort „Multatuli“ als Pseudonym ausgewählt hatte, denn die Übersetzung davon bedeutet „ich habe vieles ertragen“.

Das Buch ist eine der originellsten Erscheinungen der Weltliteratur, ein flammender Protest gegen die unmenschliche Grausamkeit der holländischen Kolonialpolitik, eine wunderbare Verbindung aus beißender Ironie, tiefster Liebe, brennendem Hass und rebellischer Empörung – ein Buch, geschrieben voller Tränen über Millionen arme, gepeinigte und versklavte Menschenkinder – der bitte Aufschrei eines Herzens das Gerechtigkeit und nochmals Gerechtigkeit einfordert. Es kommt selten vor, dass ein einzelner Mann, ohne Freunde, ohne Anhänger, den Mut aufbringt eine ganze Regierung so zu brandmarken wie es Multatuli in seinem „Max Havelaar“ tat. Dabei ist es nicht nur die schneidende Kritik, welche dem Werk eine solch außergewöhnliche Bedeutung gibt, sondern die ganze Form, der grandiose Stil zeigt uns auf den ersten Blick, dass ein Genie zu uns spricht. Das Buch ist wie ein Vulkan; es brodelt und kocht wie ein Meer aus Feuer und wirkt auf uns, wie eine befreiende Tat.


Für die holländischen Kaffeehändler war „Max Havelaar“ ein moralisches Todesurteil. Multatuli hat sie in ihrer ganzen nackten Brutalität dargestellt. Er hat ihnen die scheinheilige Maske von ihren hässlichen Gesichtern gerissen und mit glühenden Wörtern ihre kleinliche Niederträchtigkeit, ihre ausgetrockneten Herzen und ihre verstaubten Seelen gebrandmarkt.

Zuerst wird im Buch der Kaffeekrämer Batavus Droogstopel charakterisiert: „Ich bin ein Kaffeehändler und meine Adresse ist Lorien-Kracht Nr. 37“ – und bald schon wissen wir mit wem wir es die Ehre haben. Droogstopel ist ein wahrer holländischer Krämer, die lebendige Verkörperung einer ganzen Klasse. Sein Lebensprinzip ist Kaffee und nicht mehr wie Kaffee. Er beurteilt alle öffentlichen und politischen Entscheidungen nach ihrem Verhältnis zum Kaffeehandel. Für ihn gibt es nur zwei Klassen Menschen: solche, die etwas vom Kaffee verstehen und solche, die nichts davon verstehen. Die ersten sind die echt nützlichen Elemente in einer Gesellschaft; über die zweiten lohnt es sich gar nicht zu reden. Er lebt mit Kaffee, schläft mit Kaffee, träumt von Kaffee; er hat „Gott auf den Lippen und den Kaffeehandel im Herzen – mit einem Wort, Droogstopel ist ein Krämer wie er leibt und lebt; der Krämer mit seiner kleinen Moral, seiner scheinheiligen Anständigkeit, seiner automatischen Pünktlichkeit, ein Mann bei dem sich die Gefühle im Magen entwickeln und nicht im Kopf oder im Herzen, ein Mann mit gutem Gewissen und dicken Geldbeutel.

Durch einen Zufall wird dieser Droogstopel „Literat“. Ein verstorbener Bekannter, ein „gemeiner Kerl, der sich keinen Überrock leisten kann“, vererbte ihm ein Päckchen mit Manuskripten. Er findet darunter einige Gedichte und andere „närrische“ Dinge, die ihn jedoch, wie sich von selbst versteht, nicht sonderlich beeindrucken. Die ganze Geschichte ist für ihn sehr verdrießlich, bis er ganz überraschend ein Manuskript mit dem Titel „Ein Bericht über die Kaffeekultur in Menara“ entdeckt. Für Droogstopel ist es völlig unerklärlich wie ein Mensch der Poesie verfasst und ohne Überrock durch die Gegend läuft, etwas über Kaffee schreiben kann. Doch die Geschichte fängt an Droogstopel zu interessieren und er beschließt ein eigenes Buch mit dem Material des anderen zu verfassen. Zur gleichen Zeit befindet sich in seinem Haus zufälligerweise der Sohn eines deutschen Geschäftsmanns, Ernst Stern, der über ein gewisses literarisches Talent verfügt und bald schon läuft alles wie gewünscht. Stern schreibt jede Woche ein paar Artikel; Fritz, Droogstopels Sohn, kümmert sich um die Orthographie, und Marie, Droogstopels Tochter, wird das Buch für den Setzer vorbereiten. Ein paar Kapitel wird Droogstopel selbst einstreuen, den das Buch soll einen praktischen Charakter haben. Die ersten vier Kapitel sind von ihm und deren Inhalt ist leicht vorstellbar. Erst im fünften Kapitel beginnt die Geschichte von Max Havelaar. Mit glühenden Worten erzählt uns Multatuli seine Erlebnisse als hoher indischer Beamter. Wunderbare Bilder mit entzückenden Farben, ein ganzer Garten Eden, aber dort, in diesem Garten Eden, spielt sich die blutige Tragödie eines ganzes Volkes ab, und Multatuli erzählt mit einer solchen Kraft, dass unser Herz zu zittern beginnt und unsere Seele vor Schmerzen ächtzt.

Und dieses Buch wurde in einer armseligen Dachkammer in Brüssel geschrieben, von einem Mann mit verbitterten Gefühlen, der alles versuchte, doch stets verlor. Multatuli lebte ohne Brot, ohne Feuer, als er fiebrig und mit zitternden Händen damit begann seine bitteren Lebenserfahrungen niederzuschreiben; er borgte von einem Jungen 10 Centime, um sich ein Fläschchen Tinte kaufen zu können...

Das Buch wirkte wie ein Donner. Multatuli musste nicht nur miterleben wie ihn die Drooogstopels aufs ärgste beschmutzten und verleumdeten, sondern sie nahmen ihm auch sein mit Herzblut geschriebenes Buch, seinen Havelaar. Der Verleger weigerte sich eine zweite Auflage zu drucken und erst zehn Jahre später, als seine Erben das Verlagsrecht an einen zweiten verkauften, konnte eine zweite Auflage erscheinen.

Multatuli hat in diesen zehn Jahren viel durchlitten, doch seine Leiden machten ihn mutiger, stärker und radikaler. Früher beschäftigte er sich ausschließlich mit der indischen Frage, jetzt widmete er sich allen gesellschaftlichen Institutionen. Es ging ihm wie Dr. Stockmann in Ibsens „Ein Volksfeind“, der zuerst auch nur über das verdorbene Wasser im Bad redete bis er herausfand, dass alle Lebensquellen der Gesellschaft von den Droogstopels und ihren Nachfolgern vergiftet worden sind.

1861 veröffentlichte Multatuli seine „Liebesbriefe“, jenes einzigartige Werk, einzigartig in Inhalt und Form, in dem sich das Genie des Dichters erstmalig mit voller Kraft und Schönheit manifestiert. Es ist ein Buch über große Liebe und großen Hass; geschrieben „von einem Gott und von einem Teufel“, sagte er. Es eröffnet ein ganzes Panorama der menschlichen Seele mit ihren tausenden verschiedenen Stimmungen und Empfindungen. Töne, so süß wie der Gesang der Nachtigall in einer milden Sommernacht und Kriegslieder, wild und leidenschaftlich wie ein Sturmgewitter. Liebe, Hass, Zorn, Ironie, Verachtung, Kraft, Schönheit, Mut, Blut und Tränen fließen in grandiosen Bildern zusammen, in jenen Liebesbriefen zwischen drei Personen – Max, Tine und Fensi – die Merkwürdigsten, die bis heute je geschrieben wurden.

Max, der junge Siegfried mit dem titanischen Mut, der sich von alten Traditionen und großen Theorien nicht beeinflussen lässt und der nur ein Motte kennt: „zuerst der Wille, dann die Kraft und zuletzt der Sieg!“, ist der Dichter selbst, Multatuli, der Kämpfer, der Rebell, der Anarchist! Tine ist seine Frau, die mit ihm die ganze bittere Lebensperiode in Indien durchgemacht hat, die voller Aufregung, Leiden und Enttäuschung gewesen war. Und Fensi, die wunderbare Fensi, zu der Max solch unbeschreibliche Briefe schrieb, sie ist des Dichters Seele, diese große, tiefe und heldenhafte Seele, die von den Droogstopels, für die Kaffee und Scheinheiligkeit die einzigen Gesetze im Leben sind, geschändet und getreten worden ist. Doch gegen die verstohlenen Droogstopels hilft kein Heldentum. Sie wohnen im Sumpf des Lebens, auf dem Misthaufen der Geschichte. Sie verwunden ihre Gegner mit kleinen spitzen Nadeln, mit Schmutz, Kleinlichkeit und Verleumdung. Kein Schwert wird sie vernichten; man muss die Fenster ihrer Häuser herausbrechen, damit sie von der frischen Luft krepieren. Ach, diese Droogstopels, diese Droogstopels! Hilf uns Fensi! Sieh zu, dass dein Held nicht in Kaffee erstickt – nein, im Dreck!

„ Siehst du die Sonne, Fensi? Oder bist du allein die Sonne? Bist du das Zentrum der Erde, das alles an sich zieht? Dann ist jeder Regentropfen eine Nachricht an dich! Dann ist jeder Blitz, der die Wolken aufspaltet und jeder Donner ein Liebesbrief an dich, an dich! Ja, ja, ich werfe auch diesen Brief auf die Straße, in der Hoffnung dass ihn jemand aufliest und verschickt, […]  doch Vorsicht, der Blitz wird ihm die Finger verbrennen!“

Aber Fensi leidet, sie kann in dieser kleinen Welt nicht leben; sie fordert Licht und Freiheit! Und Max erzählt ihr das Märchen über die Entstehung der Autorität. […] Mit den grausamen Wahrheiten, welche den Inhalt der nein kurzen Geschichten bilden, haben andere ganze Bibliotheken angefüllt.

In den Liebesbriefen spiegeln sich die ganzen innerliche Kämpfe, die Multatuli durchlebte und sein ganzer großartiger Charakter wider. Es ist die Tragödie eines einsamen Kämpfers und zugleich die Tragödie eines menschlichen Genies. Doch es ist nicht immer eine Tragödie, denn der letzte Brief ist ein Triumphgesang auf eine große Zukunft: „zuerst der Wille, dann die Kraft und zuletzt der Sieg!“.

Es ist charakteristisch für Multatuli, der so bitter arm gewesen ist, dass er dieses Buch schrieb um einer Familie zu helfen, die in schlechten Verhältnissen lebte. Er war ein „Individualist“, der ständig damit beschäftigt war sein letztes Brot an andere zu verschenken. Derselbe Mann, der 1861 die „Liebesbriefe“ verfasste, ein Buch für ewige Zeiten, veröffentlichte im Jahr 1862 die folgende Annonce in drei Amsterdamer Tageszeitungen:

„Ich gebe dem holländischen Volk bekannt, vor mir liegt ein Brief in dem mich ein Mensch dazu auffordert meinen ganzen Haushalt zu verkaufen. Mein ganzer Haushalt besteht aus meinen Kleidern und meinen Kindern. Mehr besitze ich nicht, Und das ist eure Schande, Holländer, nicht meine! Eduard Rouwe Dekker“

Diese wenigen Worte sind ein kulturhistorisches Dokument für alle Zeiten, eine moralische Anklage gegen die Firma „Droogstopel und Kompanie“.

Das Buch „Liebesbriefe“ ist nicht bloß eines der originellsten der Weltliteratur, es ist auch eines der revolutionärsten Werke, die je geschrieben worden sind. Besonders dort, wo sich die Attacken des Schreibers gegen die Grausamkeit der holländischen Kolonialpolitik richten, fühlt der Leser instinktiv die moralische Anklage gegen die ganze moderne Gesellschaft.

Es ist überhaupt nicht möglich die ganzen seelischen Feinheiten wiederzugeben, die in diesem seltenen Buch versammelt sind. Oftmals trifft der Dichter mit einem einzigen Wort, wie mit einem Blitzstrahl in die verstecktesten Winkel der menschlichen Seele. Genau wie der Asmodäas in Lesages „Hinkender Teufel“, die Dächer anhebt um dem Studenten Sambulie die Tragodien und Komödien in den eigenen vier Wänden zu zeigen, so nimmt Multatuli in seinen „Liebesbriefen“ die Dächer von allen menschlichen Institutionen und Bräuchen und zeigt sie uns in ihrer wahren Gestalt.

„Meine Profession ist es das Alte zu überwinden“, hat Multatuli von sich einmal gesagt und er hat Wort gehalten. Sein ganzes Lebenswerk war eine große rebellische Tat, eine mutige Kriegserklärung gegen die Gesellschaft, und die Liebesbriefe gehören zu der schönsten und tiefsten Seite dieses Lebenswerks.

Das Buch löste eine Revolution in Holland aus. Die Droogstopel aller Richtungen und Parteien warnten vor den Gefahren für die Gesellschaft und dass Multatuli die heiligen Gesetze der alten Moral und Ordnung zerbricht. Keiner von ihnen war in der Lage den eigentlichen Inhalt des Buches zu verstehen, aber ihr Instinkt sagte ihnen, dass das angefeindete Buch die Beschuldigung eines genialen Denkers und Künstlers gegen die enge und kleingeistige Welt der Droogstopels ist.

Der „Gravenhaager Nivsbode“, einer der bekanntesten bürgerlichen Blätter zu jener Zeit, gab sein Urteil über die Liebesbriefe auf folgende Weise ab:

„Wir haben nun ein modernes Herostratus. Es ist der „Ich-Kult“ des Multatuli. Er äußert sich zu allem was dem Menschen lieb und teuer ist. Er predigt die ärgsten und unmoralischsten Lehren. Alles was die Nation zu lieben und respektieren lernte, tritt er mit Füßen. Er leugnet die Existenz Gottes und negiert die Bibel und das Evangelium. Er glaubt nicht an die Existenz der Seele und nicht an die Unsterblichkeit und denkt nur an sein „Ich“, die einzige Gottheit auf der Welt.“

Und da die oben genannte Zeitung noch das Volk dazu aufrief das Buch zu boykottieren, erwarb sie sich die dankbare Sympathie der Firma „Droogstopel und Kompanie“. So war schon immer die Taktik der Krämer gewesen – den Magen boykottieren um dadurch den Gedanken zu ersticken.

Lebendig, im bittersten Elend, hatte Multatuli noch mehrere literarische Versuche, bis er endlich mit dem großen Sammelband „Ideen“ begann. In einem Brief an seinen Verleger hat er den Charakter des Werkes treffend illustriert:

„Nein, man soll nicht sagen, dass keiner versucht hat das Volk von dem Fluch zu befreien, der auf ihm lastet. Man soll nicht sagen, dass keiner den Mut hatte, sich der großen Krankheit zuzuwenden, unter der das Volk leidet. [...] Ich bitte den Verlag das Werk anzunehmen, dessen Herausgabe ich beschlossen habe. Es geht darin um die Wahrheit. Das ist mein Fortschritt, mein einziger Fortschritt. Ich berichte in Erzählungen, Märchen, Parabeln, Erinnerungen, Romanzen, Prophezeiungen, Paradoxien. Ich hoffe, dass jeder Bericht eine Idee enthält. Ihr sollt mein Buch „Ideen“ nennen, nicht anders, und das Motto dafür soll „Ein Seher geht sehen!“ sein.“

Die „Ideen“ ist ein märchenhaftes Werk, ein Sturm im Tempel der Philister, ein Kampf gegen alle Institutionen der menschlichen Gesellschaft. In wenigen Zeilen bringt der geniale Holländer uns die tiefsten Wahrheiten. Er schont niemanden und mit glühenden Worten predigt er das Evangelium der Liebe, von der ewigen Schönheit und dem neuen Menschen, „welcher bis heute noch nicht entdeckt worden ist“. Und plötzlich schreibt er spontan die Geschichte vom „kleinen Walter“, in der er uns die Kinderseele mit einer Meisterschaft zeigt, so dass seine bittersten Gegner die Augen vor ihm niederschlagen.

Der siebte und letzte Band der Ideen erschien 1877; sie wurden mit Blut geschrieben, mit Herzblut und der Mann, der sie verfasste, hat unmenschlich in seinem Leben gelitten. Seine tiefen Augen sahen das heilige Land der Schönheit und Freiheit und dafür nahmen ihm die Droogstopels den letzten Bissen Brot. Erst in den letzten Jahren seines gepeinigten Lebens gab ihm ein Freund die Möglichkeit ein wenig auszuruhen. In einem kleinen Dorf in Deutschland starb er 1886 mit 66 Jahren.

Rudolf Rocker



Quelle: Multatuli. Liebes-brief. ins Jiddische übersetzt von A. Frumkin, mit einem Vorwort von Rudolf Rocker, London: Anarkhistisher literatur fareyn, 1911.