von Rudolf Rocker
Der diesjährige
Kongress hat eine besondere Bedeutung, da sich in den letzten 18
Monaten verschiedene Strömungen in der deutschen syndikalistischen
Bewegung herausgebildet haben, die für ihre Weiterentwicklung eine
tödliche Gefahr darstellen. Dass die Bewegung deshalb eine kritische
Periode durchlebt, daran besteht kein Zweifel. Noch vor dem Krieg war
die Bewegung sehr klein, aber nach dem Ausbruch der Revolution hat
sie einen starken Aufschwung erlebt.Viele tausende Arbeiter, die mit
den Zentralgewerkschaften und mit der Taktik der Sozialdemokratie
während des Krieges unzufrieden waren, schlossen sich der
syndikalistischen Bewegung an. Es versteht sich von selbst, dass
nicht jeder von ihnen zu einem überzeugtem Syndikalisten und
Anarchisten wurde. Viele von ihnen waren bloß unzufrieden, doch die
meisten von ihnen hatten die ehrliche Absicht, sich mit den neuen
Ideen und Methoden unserer Bewegung vertraut zu machen. Es hat eine
Menge Arbeit gekostet die Massen planmäßig im Geist des
Anarchosyndikalismus zu erziehen, doch die Arbeit wurde getan und so
hat die anarchosyndikalistische Bewegung heute in allen Städten
einen Kern an hingebungsvollen Kameraden, die ganz genau wissen was
sie wollen und dafür Sorge tragen, dass die Bewegung den
eingeschlagenen Weg nicht verlässt und stattdessen rein
gewerkschaftliche Reformen anstrebt.
Die syndikalistische
Bewegung nahm in den vergangenen drei Jahren aktiven Anteil an allen
großen Kämpfen gegen die Reaktion. Dutzende unserer besten Genossen
haben mit ihrem Leben bezahlt und tausende ihr Freiheit geopfert. Die
Bewegung wurde dadurch nicht geschwächt, im Gegenteil, sie wurde von
Tag zu Tag stärker, trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten, die
ihr im Weg standen. Doch innerhalb der letzten 18 Monaten hat sich
eine innere Krise gebildet, welche die Bewegung bereits auf dem
letzten Kongress in Düsseldorf beschäftigte und so jetzt auch in
Erfurt.
Die jetzige Krise
wurde von der Art und Weise der Anarchisten ausgelöst, oder bessert
gesagt, von einem Teil der Anarchisten, die sich nicht an die
Administration, die regelmäßigen Kongresse sowie bestimmte
Beschlüsse einer großen Bewegung gewöhnen können.
Die anarchistische
Bewegung bei uns in Deutschland hat sich leider unter sehr
ungünstigen Bedingungen entwickelt. Der Einfluss der
Sozialdemokratie auf die allgemeine Arbeiterbewegung war so stark,
dass die Anarchisten trotz all ihrer Tätigkeiten und Opfer, die sie
im Verlauf der letzten 50 Jahre brachten, nie richtigen Boden unter
die Füße bekamen. In der Folge waren die Kameraden stets nur in
kleinen Gruppen aktiv, die verstreut über das ganze Land verteilt
waren, ohne Einfluss auf die Arbeiterbewegung. Die Bewegung war in
allen Richtungen verstreut. Die Mehrheit der Kameraden waren Anhänger
des kommunistischen Anarchismus, andere waren vollständig von den
Ideen Stirners und Nietzsches beeinflusst, andere wiederum hingen dem
sogenannten Experimental-Sozialismus nach. Es versteht sich von
selbst, dass jede Gruppe davon überzeugt war, dass ihre Ideen und
Methoden die besten sind. Leider ist der Geist der Intoleranz
nirgendwo so verbreitet wie in Deutschland, mit Ausnahme von
Russland, so dass eine Reihe persönlicher Streitigkeiten entstanden,
die niemandem nutzte, aber jedem schadete. In einer kleinen
Bewegung, deren Tätigkeiten ganz auf verschiedene kleine Gruppen
verteilt sind, ist dies leider unvermeidlich. Die Energie des
Einzelnen, die sich nicht im Rahmen einer großen Bewegung entfalten
kann, wird dann für persönliche Angelegenheiten eingesetzt, die
dann zu Streitereien führen. Das war in Deutschland leider sehr
häufig der Fall.
Als sich die
syndikalistische Bewegung zu entwickeln begann, fanden die aktivesten
Kameraden aus der anarchistischen Bewegung ein breites
Betätigungsfeld und die meisten von ihnen haben sich voller Energie
an die Arbeit gemacht und nutzten jede Gelegenheit. Dank der
Tätigkeit dieser Genossen, nahm die syndikalistsche Bewegung in
Deutschland einen rein anarchistischen Charakter an, und hat sich
auf den Boden einer Prinzipienerklärung gestellt, welche den
kommunistischen Anarchismus zum Endziel ihrer Bestrebungen erklärt.
Nur ein Teil der
anarchistischen Kameraden war mit dieser Entscheidung zufrieden. Die
reinen Individualisten sind bald aus der syndikalistische Bewegung
ausgetreten, denn sie betrachteten sie als eine Gefahr für die
„individuelle Freiheit“ und als neue Form der „Zentralisation“.
Die Richtung des Hamburger „Alarm“, man findet nichts dergleichen
in der übrigen anarchistischen Bewegung, verwirft prinzipiell jede
Form der Organisation. Darin sieht sie das eigentliche Wesen des
Anarchismus. Die Genossen der „Anarchistischen Föderation“
erkennen die Notwendigkeit einer Organisation an und sind auch in der
syndikalistischen Bewegung aktiv. Aber leider sind die Beziehungen
zwischen einigen älteren anarchistischen Genossen und manche der
ehemaligen „Lokalisten“, welche die eigentlichen Gründer der
heutigen syndikalistischen Bewegung sind, noch immer nicht so wie sie
sein sollten. Die Kämpfe zwischen den beiden Richtungen haben noch
heute einen gewissen Einfluss, obwohl sie eigentlich überholt sind.
Die wichtigste
Frage, welche die Genossen der syndikalistischen Bewegung in den
letzten achtzehn Monaten beschäftigte, war die Entwicklung der
Organisationsform. Alle Strömungen innerhalb der deutschen
syndikalistischen Bewegung sind prinzipiell Anhänger des
Föderalismus, doch ihre Auffassung von Föderalismus unterscheidet
sich sehr. Manche der Kameraden, welche die besten Absichten haben,
machten aus dem Föderalismus eine Karikatur. In einem Land wie
Deutschland muss man sich darüber nicht wundern. Deutschland ist ein
klassisches Land der Zentralisation. Unter dem allmächtigen Einfluss
der marxistischen Sozialdemokratie und der zentralistischen
Gewerkschaftsverbände wurde jede eigene Initiative der Arbeiter
erstickt. Die ganze Arbeiterbewegung wurde nach einer bestimmten
Schablone organisiert, die keine andere Auffassung erlaubte. Und als
sich nach der Revolution ein Teil der deutschen Arbeiter von dem
zentralistischen Zwang befreit hatte, der in Deutschland bereits zur
Tradition geworden war,
ist die Angst vor
einer zentralistische Form der Bewegung so groß geworden, dass die
Genossen vor dem eigenen Fluch erschraken und Gespenster am hellen
Tag erblickten.
Diese Tendenz machte
sich schon beim Düsseldorfer Kongress bemerkbar, denn als die
sogenannte „Opposition“ nicht in der Lage war einen praktischen
Vorschlag zur Organisation zu machen, entstanden endlose Debatten,
die zu keinem vernünftigen Resultat führen konnten. In Erfurt war
die Situation klarer, insofern die Opposition wenigstens den Versuch
gemacht hat, ihre Forderungen in bestimmten Punkten zu formulieren.
Die wichtigsten dieser Punkte waren: 1) dass der „Syndikalist“
der momentan in einer Auflage von 80.000 Stück pro Woche erscheint,
nur einmal im Monat in Form eines Journals erscheinen soll, 2)
anstelle des Verlages „Syndikalist, der heute alle Broschüren und
Bücher herausgibt, soll der Kongress beschließen, dass von jetzt an
jedes Jahr ein anderer Agitations-Distrikt die Veröffentlichung von
Literatur übernimmt. Die ausschließlich aus Berlin und Düsseldorf
stammenden Anhänger der Opposition glauben dadurch verhindern zu
können, dass die Presse zum Monopol in der Hand einer kleinen Gruppe
von Menschen wird und sich die Herausgabe von Literatur auf eine
Minderheit konzentriert. Andere gehen noch weiter und wollen jede
Prinzipienerklärung hinter sich lassen, da sie darin ein bestimmtes
Programm und die Ordnung einer politischen Parteienbewegung sehen
usw.
All diese
Forderungen nennt man föderalistische Prinzipien, obwohl sie in
keiner Beziehung zu der eigentlichen Frage stehen. Der Fakt ist, dass
es neben dem „Syndikalist“ nur in einem einzigem Distrikt
besondere Zeitungen und Berufsorgane bestehen. Es stört niemanden,
wenn ein Distrikt es für nötig hält eine eigene Zeitung
herauszugeben. Es hat niemand etwas dagegen, wenn eine bestimmte
Ortsgruppe Literatur herausgeben will, doch das gefährliche
Experiment die Verantwortung für einen Verlag, der hundert tausende
von Broschüren und Büchern herausgibt, jedes Jahr einer anderen
Gruppe zu übergeben, ist nicht nur absurd, sondern es schadet allen
Unternehmungen auf diesem Gebiet.
Die ganzen unklaren
Begriffe und Vorstellungen über das Wesen des Föderalismus und die
Organisation überhaupt, gehörten zu den Gründen, warum die
Geschäftskommission diesen Punkt an die erste Stelle des
diesjährigen Kongresses gesetzt hat. Der Genosse Rocker übernahm
das Referat über „Föderalismus und Zentralismus“ und hat in
einem über zwei Stunden dauernden Vortrag die Grundlinien, die
Bedeutung für die Arbeiterbewegung und die historische Entwicklung
beider Prinzipien analysiert. Der Redner kam zu dem Schluss, dass,
wenn auch der Föderalismus kein absolut vollkommene
Organisationsform darstellt, so ist er doch die beste Form, welche
die Menschen in ihrem gesellschaftlichen Leben bis jetzt
herausgefunden haben. Auch ist die äußerliche Form einer
Organisation nicht das wichtigste, sondern deren Geist, der ihre
Mitglieder beeinflusst. Technische Formen ersetzten nicht das
eigentliche Wesen der Organisation.
Rudolf Rocker. 14ter
kongres fun deytshe anarkho-sindikalisten, in: Fraye arbeter shtime.
Vol. 1190 (22.12.1922), New York: The Free Voice of Labour.
Originale: